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Von Thomas Oser
Märchen beginnen meist an einem Ort, an dem etwas nicht stimmt. So ist es auch in Sibylle Bergs Geschichte "Habe ich dir eigentlich schon erzählt . . ." In diesem "Märchen für alle", wie es im Untertitel heißt, bleibt aber der Ort der Handlung, anders als in traditionellen Märchen, nicht unbestimmt: Es ist die DDR, dargestellt als das verwunschene Reich, in dem jugendliche Träume nicht wahr werden können. Und eben deshalb entschließen sich die beiden Erzähler, die knapp 14-jährige Anna und der etwas ältere Max, zur Flucht. Die beiden sind gewissermaßen Hänsel und Gretel in moderner Gestalt, nur dass sie keine Geschwister sind, sondern später fast so etwas wie ein Liebespaar. Anna ist mit ihrer Mutter allein, einer Alkoholikerin, die in Gaststätten betrunkene Männer aufgabelt. Und Max lebt mit seinem Vater: Polizist von Beruf, stumm wie ein Fisch und dazu noch lieblos. Der Hexe begegnen die beiden auf ihrer Reise gleich in mehrfacher Gestalt: In Polen geraten sie zunächst in die Fänge eines kinderlosen Paares. Nach ihrer Flucht stoßen sie auf eine ominöse Fabrik. Dort leisten Kinder Zwangsarbeit, doch wollen diese letztlich gar nicht befreit werden, sondern ziehen ein geordnetes Leben in Ketten mit dünner Suppe den Unwägbarkeiten der Freiheit vor. In Rumänien schließlich werden Anna und Max von vermeintlichen Polizisten geschnappt und zum Betteln gezwungen.
Zärtlich vereint
Aber auch ihre eigenen Dämonen stellen Anna und Max auf die Probe: Anna verguckt sich irgendwo in einen Schönling im Rollstuhl, Max, zum ersten Mal von Eifersucht gepackt, sucht alleine das Weite. Am Ende finden sie sich allerdings zärtlich vereint auf einem Frachtschiff in den Westen. Wie es weitergeht, bleibt offen - keine Glücksverheißung auf Lebenszeit, wie sonst in Märchen üblich. Doch für Berg ist solch ein Ende schon erstaunlich, ist doch in ihren Geschichten das Höchste der Gefühle, wenn eine Frau im Arm eines Mannes einfach einschlafen kann.
Überhaupt hat Berg ein sehr realistisches Märchen geschrieben. Sie idealisiert ihre Helden nicht: Diese haben nicht nur mit der bösen Welt Probleme, sondern auch mit ihren eigenen Unzulänglichkeiten. Dabei erzählt Berg treffsicher aus deren Perspektive: Da wird über das Märchenhafte hinaus übertrieben. Und Versatzstücke aus Büchern und Filmen, die die Fantasie der Jugendlichen prägen, werden ironisch eingeflochten. Das Buch ist zwar nicht für Kinder geeignet, aber für Jugendliche und Erwachsene allemal. Berg macht die untergegangene Welt des Ostblocks auf elementare Weise anschaulich, ohne ihr auch nur eine einzige Träne nachzuweinen.
Sibylle Berg: Habe ich dir eigentlich schon erzählt . . . - Ein Märchen für alle. Kiepenheuer & Witsch, Köln. 167 Seiten, 7,95 Euro.
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