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Dem vielfältigen Angebot an Anthologien deutscher Gedichte fügt Reclam nun einen Tausendseiter hinzu, der schon äußerlich marktbeherrschend wirkt und von der Herstellungsqualität eine hohe Lebensdauer verspricht. Ausgewählt und herausgegeben von dem Göttinger Literaturprofessor Heinrich Detering will „Reclams Großes Buch der deutschen Gedichte“ neues Licht in den dämmerig gewordenen Sprachraum der deutschsprachigen Lyrik tragen. Die 800 ausgewählten Gedichte aus dreizehn Jahrhunderten wirken für den freudig sich umsehenden wie für den kopfschüttelnd weiterblätternden Leser wie ein Gang durch einen langen Flur mit Hunderten von einladend beschrifteten Verfassertüren, die man durch Lesen öffnen kann.Heinrich Detering beginnt bei den berühmten Merseburger Zaubersprüchen („sose benrenki, sose bluotrenki, sose lidirenki“) und endet mit deren Persiflage durch Peter Rühmkorfs „Auf einen alten Klang“ mit der Zeile „spüren schon die Ärsche Fliehkraft unter uns“. Man nimmt zur Kenntnis, dass Detering auf diesen tausend Seiten nicht nur der Fliehkurve des ethischen Anspruchs Aufmerksamkeit zukommen lässt, sondern dass er selbst am Übergang von Nonsense zum „Megasense“ (Robert Gernhardt) sein Vergnügen hat.Die Gedichte der Deutschen im Sinne von Weltliteratur aber machen selbstverständlich und unangefochten den Hauptteil dieses im wahrsten Sinne des Wortes gewichtigen Bandes aus. Großgedruckt für altersschwache Augen, zu schwer aber für die zugehörigen Hände ist dieser von dem Buchgestalter Friedrich Forssman typographisch betreute Sammelband. „Ein Hausbuch deutschsprachiger Lyrik auf jeden Fall, zugleich ein lebendiger Kanon ist uns gelungen“, wirbt der Verlag, wohl wissend, dass jede Auswahl auch Beschränkung zur Folge hat. Vergeblich also sucht man „Hyperions Schicksalslied“ von Hölderlin, Schillers „Glocke“, Hesses „Stufen“ oder Storms „Nachtigall“, um nur einige Beispiele zu nennen.Auf der anderen Seite aber ist dieser Band ein Füllhorn an Gelegenheiten, dem Schulbuchzwang zu entkommen, neue Einsichten zu erlangen, Halbvergessenem wiederzubegegnen, im Vergleich charakteristische Linien verfolgen zu können bis in die Moderne. Sehr rühmlich zu erwähnen ist ein Anhang mit klug formulierten Kurzbiographien aller zu Wort gekommenen Dichter. Die Empfehlung „Schlag nach bei Detering“ wird sich bald einstellen. Reclams Großes Buch der deutschen Gedichte. Vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert. Ausgewählt und herausgegeben von Heinrich Detering. 1002 Seiten, 36,90 Euro.
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