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Von Wolf Scheller
Wie hat das damals in den Fünfzigerjahren mit dem Lyriker Grass angefangen! Ein bisschen Expressionismus, ein bisschen federleicht: „Ein Vogel prahlt im Gebälk seines Baumes…“ Oder in dem avantgardistisch anmutenden frühen Poem „Der Säulenheilige“: „Wohin er pisste, morsen die Pfützen dem Himmel Signale.“ Damals ahnte niemand, dass dieser junge Mensch mit der Aura kraftstrotzender Vitalität zuerst zum Bürgerschreck, dann zum Repräsentanten deutscher Nachkriegsliteratur mit Nobelpreiswürden aufsteigen würde. Dann im August vorigen Jahres der Schock, das Bekenntnis 60 Jahre nach Kriegsende, Angehöriger der Waffen-SS gewesen zu sein. Empörung, Scham und Schande, nahezu weltweite Entrüstung, nicht immer ehrlich, oft genug geheuchelt. Monatelang redeten alle über Grass. Der sah sich bald umstellt von einer Vielzahl selbstgerecht auftretender Kritiker, nahm übel, versuchte sich zu verteidigen, oft mit dürren Worten und nicht immer einsichtigen Argumenten. Deswegen musste jetzt dieses Buch „Dummer August“ entstehen, als Antwort auf die wilde Debatte eines Sommers, vor dem Erscheinen seines Erinnerungsbuchs „Beim Häuten der Zwiebel“. Wie kann sich ein Dichter, ein Künstler am besten zur Wehr setzen? Mit den Mitteln seiner Kunst.
Erbitterung und Resignation
Also antwortet Grass mit Gedichten und Zeichnungen, mitunter in einem Ton, der zwischen Erbitterung und Resignation schwankt. „Wohin fliehen?“ fragt er, ermuntert sich aber sogleich zum Ausharren mit dem trotzigen Vers: „Also bleiben, /wechselnde Wetter aushalten / und wie gelernt/ gegen den Wind spucken, / denn noch / ist nicht alles gesagt.“ Wirklich nicht? Woher diese Märtyrerpose „Am Pranger“ mit den beziehungsvollen Zeilen „Seht, nun steht er gehäutet da, / rufen jetzt viele, / die nicht die Zwiebel zur Hand nehmen wollen, / weil sie befürchten, etwas, nein, schlimmer,/ nichts zu finden, das sie kenntlich werden ließe.“
Grass als „Dummer August“ („Schon komme ich mir komisch vor, gestellt vors Schnellgericht der Gerechten“) - eine Clownsfigur. Dieser „dumme August“ ist aber doch nur Gehilfe und steht am unteren Ende der Hierarchieleiter. Meistens empfinden die Zuschauer eher Sympathien für den warmherzigen, aber dummen August als für den besserwisserischen Weißclown. Sieht sich Grass wirklich als tragischen Hanswurst? „In meinen Gedichten“, so schrieb er einmal, „versuche ich, durch überscharfen Realismus fassbare Gegenstände von aller Ideologie zu befreien, sie auseinander zu nehmen, wieder zusammenzusetzen und in Situationen zu bringen, in denen es schwer fällt, das Gesicht zu bewahren, in denen das Feierliche lachen muss, weil die Leichenträger zu ernste Miene machen, als dass man glauben könnte, sie nehmen Anteil.“
Der Bitternis in dieser lyrischen Apologie stehen mitunter aber Ausdrücke anhaltender Lebensfreude gegenüber, etwa, wenn Grass sich über Kochrezepte („Irdische Freude“), über „Heines Zuckererbsen aus Schoten“ oder über „Dorsch frisch vom Kutter“ auslässt. Dann bewegt er sich auf ungefährdetem Terrain, träumt von Artischocken, erscheint verlässlich und kenntlich. Nein, Grass wankt nicht. Auch wenn er etwas angeschlagen wirkt: „Jetzt übe ich Schritte auf abschüssigen Wegen, weiß nicht die Richtung.“
Es gibt etliche schöne Passagen in diesem Buch, das Grass großflächig mit dem Zeichenstift illustriert hat. Er liest Montaigne und Sternes „Tristram Shandy“, ortet sich und seinen Humor in der Zeit der Aufklärung - und freut sich am Ende über das Paar neue Schuhe: „Nun knarrt das neue Leder selbstsicher bei jedem Schritt, als wollte es mich überleben.“
Keine Abrechnung
„Dummer August“ ist keine Abrechnung, eher ein nachdenkliches Befragen der eigenen Position in der heraufziehenden Dämmerung des Alters. Grass, dessen Erzählton eine gewisse Derbheit nicht abzusprechen ist, begegnet uns in seinen Gedichten oft mit einer stillen Zartheit, die naturgebunden, in der Einsamkeit des Waldes gewachsen scheint. Und Heiteres ist ihm auch nicht fremd, wenn er zu Beginn resümiert: „Bald - ist zu ahnen - / werde ich nur noch mit mir plaudern, /redselig wie ich bin.“
Günter Grass: Dummer August. Gedichte, Lithographien, Zeichnungen. Steidl-Verlag, Göttingen, 80 Seiten, 25 Euro.
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