1.5.2017 Die DGB Kundgebung auf dem Marktplatz in Esslingen lockte die Besucher trotz Regen.

 Foto: Hauenschild

Von Peter Dietrich

Bei Sonnenschein über Gerechtigkeit zu reden oder zu hören, ist einfach. Kälte und Regen verlangten gestern bei der Maikundgebung des DGB auf dem Esslinger Marktplatz nach mehr Überzeugung - und nach Zeltdach oder Schirm. Für Benjamin Stein, den neuen Geschäftsführer der Gewerkschaft Verdi im Bezirk Fils-Neckar-Alb, war es die erste Rede zum 1. Mai, in der er Fakten und Forderungen vortrug - zuallererst zum Schutz des Sonntags, der den Arbeitnehmern und ihren Familien gehöre. Der ausnahmsweise Verkauf sei längst zur Regel geworden. Mit dem Internet via Öffnungszeiten konkurrieren zu wollen, sei ziemlich dämlich, befand Stein.

Auch Vertreter der Politik wie der Bundestagsabgeordnete Markus Grübel (CDU), die Landtagsabgeordneten Andrea Lindlohr (Grüne) und Wolfgang Drexler sowie OB Jürgen Zieger (beide SPD) hielten dem Regen stand. Seit „dem halben Wechsel im Land“ gehe es „ohne eigene Vision“ nur darum, welches Rad zurückgedreht werde, kritisierte Stein und forderte mit Blick auf die Bildungszeit: „Lasst einfach mal 40 Jahre die Hände von ihr.“ Mitbestimmung sei Demokratie im Betrieb, und Demokratie koste eben Zeit und Geld. Worum sich die Landesregierung auch nicht kümmern müsse, sei das Arbeitszeitgesetz: „Ob analog oder digital - mehr als zehn Stunden Arbeit sind immer zu viel.“ Die Digitalisierung könne niemand aufhalten: „Nein, den Heizer auf der E-Lok wollen auch wir nicht.“ Firmen sollten jedoch durch tolle Produkte, Innovationen und intelligente Dienstleistungen wettbewerbsfähig sein, nicht durch Arbeitsplatzabbau.

Dass Klinikpatienten laut einer aktuellen Umfrage zufrieden sind, liegt nach Steins Worten daran, dass „Beschäftigte über den Arbeitsvertrag hinaus arbeiten - ohne Pausen, flexibel, häufig über die eigene Belastungsgrenze hinaus“. Die Demokratie sei gefährdet, „weil Menschen abgehängt werden, trotz Arbeit arm sind, sich zurückziehen und teils rechts bis stramm rechts wählen“. Nur wenn von oben mehr Geld reinkomme, könne der Staat seine Aufgaben anständig erfüllen. Jeder, so Steins Rat, solle von seiner Rentenauskunft Krankenversicherung und Steuer abziehen und prüfen, ob später nach Abzug der Miete noch etwas übrig sei. Der Konflikt sei nicht Jung gegen Alt, sondern Reich gegen Arm.

„Ob Rente, Krankenversicherung oder Löhne - es geht nicht gerecht zu in Deutschland“, befand der ebenfalls neue DGB-Kreisvorsitzende Gerhard Frank. Es brauche sichere Arbeitsverträge, Schutz von Tarifverträgen, ein gerechtes Steuerkonzept und Investitionen in einen handlungsfähigen Staat. Gerade die Arbeitswelt sei ein Beispiel für Vielfalt und Integration: „Allein die IG Metall hat fast 500 000 Mitglieder mit ausländischen Wurzeln.“

Um die Wurzeln der Menschenwürde ging es vor der Kundgebung in einem ökumenischen Gottesdienst im Esslinger Münster St. Paul. Die Pfarrer Stefan Möhler und Jochen Keltsch sowie Diakon Peter Maile betonten die Einzigartigkeit jedes Menschen. Möhler bat Gott um Hilfe, „eine Gesellschaft zu gestalten, in der jeder Mensch in Würde leben kann“. Keltsch und Maile zeigten mit der Geschichte von der kleinen Schraube, dass es auf jeden ankommt. Und am Ende strahlte die Sonne zum 1. Mai zumindest in Liedern - im Münster als „Sonne der Gerechtigkeit“, am Kundgebungsende im Arbeiterlied „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“.