David Jakobs (vorne) als großartiger Glöckner Quasimodo. Foto: Johan Persson - Johan Persson

Das neue Musical in Stuttgart-Möhringen stellt nicht Effekte vor Substanz, sondern erzählt mit einem großartigen Ensemble eine spannende Geschichte mit Moral

StuttgartGute Musik und ein großartiges Ensemble: Das neue Musical in Stuttgart-Möhringen stellt nicht, wie so manche Vorgänger, Effekte vor Substanz, sondern setzt ganz im Sinne einer jahrhundertealten Theatertradition auf eine spannend erzählte Geschichte mit Moral; die hochberühmte literarische Vorlage stammt immerhin von Victor Hugo. „Der Glöckner von Notre-Dame“ wird, wie die meisten Musicalproduktionen in jüngerer Zeit, von der Stage Entertainment auf Rundreise durch Deutschland geschickt, nach Stationen in Berlin und München residiert die dunkle Geschichte von Quasimodo nun als Nachfolger von „Mary Poppins“, einem anderen Erfolgsstück aus dem Hause Disney, im Stage Apollo Theater im Stuttgarter SI-Centrum.

Das Musical über den buckligen, missgestalteten Glöckner, der im 15. Jahrhundert im Turm der Pariser Kathedrale Notre-Dame haust und die schöne Zigeunerin Esmeralda rettet, kommt nicht als erfolgreiche Broadway-Show nach Deutschland, sondern ruhte nach seiner Uraufführung in Berlin zwischenzeitlich zehn Jahre in der tiefen Krypta des Vergessens. 1999 hatte das Werk das Theater am Potsdamer Platz eröffnet, als erstes Disney-Musical, das nicht in den USA produziert wurde. Die Autoren gehören heute zum absoluten Adel des Genres: Texter Stephen Schwartz ist der Mann hinter dem intelligenten Hexen-Musical „Wicked“, das in Stuttgart zwei Jahre lang lief und am Broadway nach wie vor Rekorde bricht. Komponist Alan Menken ist in Stuttgart durch „Die Schöne und das Biest“ bekannt, er bekam zahlreiche Oscars für seine Disney-Songs und -Filmmusiken.

Leidenschaftliche Lieder

Dafür, dass dieses Musical einmal aus einem Trickfilm entstand, mutet die jetzige Partitur recht ungewöhnlich an – es beginnt mit vierstimmig gesetzter Gregorianik, immer wieder klingt der große Chor, der im Hintergrund in einem zweistöckigen Chorgestühl platziert ist, mit mächtigen Gesängen ins Geschehen (manchmal vielleicht ein bisschen zu laut ausgesteuert, um die schönen Chorsätze wirklich wahrzunehmen). Den Hauptfiguren sind Leitmelodien zugeordnet, die Menken zum Teil wie eine Fuge ineinander komponiert und kombiniert – das ist nicht der hübsche Tonfall anderer Disney-Komödien, sondern klingt mit weit ausholenden, leidenschaftlichen und durchweg großartig gesungenen Liedern eher nach „Les Misérables“.

Vor vier Jahren hatten die Autoren ihr Stück wieder herausgeholt und einer gründlichen Überarbeitung unterzogen. Statt aufwendiger Bühnentechnik und bunten Projektionen wie damals in Berlin gibt es nun ein Einheitsbühnenbild: den riesigen, dunklen Glockenstuhl der Kathedrale, in dem uns eine Art Schaustellertruppe in grauen Kutten die Geschichte erzählt. Eigentlich sind es die Steinfiguren Notre-Dames, die sich blitzschnell in Gaukler, Kardinäle, Bürger oder Soldaten verwandeln, die aus Kirchenbänken Kulissen bauen, Kostüme aus Truhen ziehen, Feuerwerk entzünden oder bunte Prospekte an Lanzen aufhängen. Immer wieder treten die Figuren aus der Handlung heraus und erzählen in der dritten Person von ihrem eigenen Los, wie bei einer Moritat. Das bringt einen Hauch Brecht‘scher Wahrhaftigkeit in ein Genre, wo man das nicht unbedingt vermuten würde.

Die neue Inszenierung fiel nicht etwa größer, bunter, Disney-hafter aus, sondern reduziert und stringent – genau deshalb ist sie so viel besser. David Jakobs, der großartige Darsteller der Titelfigur, kommt aufrecht herein, malt sich schwarze Schlieren ins Gesicht, schnallt einen Buckel an und wird in einer staunenswerten Verwandlung zum schiefen, ungelenken Quasimodo. Regisseur Scott Schwartz, der Sohn des Textautors, setzt auf die Urkräfte des Theaters, die schon vor Jahrhunderten die Zuschauer bewegten – faszinierend, dass genau dieser Ansatz in der ansonsten Hightech-blitzenden Musical-Sparte so gut funktioniert. Bei aller Dramatik scheint aber auch immer wieder ein sehr lieber Humor auf, etwa wenn Quasimodo sich mit seinen imaginären Freunden, den Steinfiguren, berät.

Geschichte der Unterdrückten

Schwartz und die Autoren erzählen Victor Hugos Roman als eine Geschichte der Unterdrückten: Erzdiakon Frollo, der Quasimodo wie ein Schoßhündchen behandelt, hetzt gegen Zigeuner und alles Fremde, die Gaukler wiederum verprügeln den missgestalteten Glöckner, die schöne Esmeralda wird zum begehrten Objekt sämtlicher Männer. Die Botschaft liegt, wie so oft bei Disney, in der Erzählung selbst: Es geht um Mitgefühl, Toleranz, Respekt vor allen Außenseitern. Das schöne Duett „Einmal“, das an „Somewhere“ aus Leonard Bernsteins „West Side Story“ erinnert, ruft ganz konkret nach einer gerechteren Welt.

Anders als der nur mittelmäßig einstudierte „Bodyguard“ nebenan glänzt „Der Glöckner“ mit einem brillanten, leidenschaftlich engagierten Ensemble und tollen Stimmen. Neben David Jakobs mit seiner erstaunlichen Körpersprache gefallen Maximilian Mann als fescher Hauptmann Phoebus und Felix Martin, damals einer der ersten deutschen Musicalstars, als selbstgerechter, in sich zerrissener Erzdiakon Frollo. Mercedesz Csampai ist fast ein wenig zu brav für die sinnliche Esmeralda. Und über allem hängen und dröhnen die riesenhaften Glocken: Genau wie bei Victor Hugo ist es die erhabene Kathedrale selbst, die im Zentrum steht.

Täglich außer montags. Samstags und sonntags auch nachmittags.

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