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Der Glaser aus Syrien

Fotos: Roberto Bulgrin

Der Glaser aus Syrien

Aus der Heimat geflüchtet in ein Land, in dem alles fremd ist — das hat auch Mohammad Youssef erlebt. Heute hat er eine Perspektive und vor allem einen Job.

Von Nicole Spiegelburg

Von Nicole Spiegelburg

Seine großen dunkeln Augen sind immer von einem leichten Lächeln umspielt. Jung wirkt er – viel jünger als er mit seinen 31 Jahren tatsächlich ist. Für den Fototermin hat sich Mohammad Youssef seine schwarzen Haare besonders akkurat zurückgegelt. Ruhig und konzentriert sitzt er da und lauscht den Fragen der Redakteurin; bevor er antwortet, überlegt er immer erst einen kurzen Moment. 

Dieselbe Ruhe und Konzentration begleiten ihn auch in seiner Arbeit. Wenn er beim Kunden Fensterstürze vermisst, Glas austauscht oder Haustüren einbaut. Der junge Mann mit syrischen Wurzeln ist Fensterbauer bei der Firma Schmidetter in Deizisau. Dort hat er bereits seine Ausbildung gemacht und im Juli 2023 mit der Gesellenprüfung abgeschlossen. Seither gehört er fest zum Team des Fachbetriebs. So fest, dass es sich Senior-Chef Hans Schmidetter ohne ihn gar nicht mehr vorstellen kann: „Er macht so einen super Job bei uns und war noch keinen Tag krank.“ Mohammad Youssef selbst ist da weitaus bescheidener, wenn es um ihn selbst und vor allem um seine Deutschkenntnisse geht: „Die Sprache geht langsam voran, es braucht alles viel Zeit“, sagt er und zieht bedauernd die Schultern hoch. Es ist ihm anzumerken, dass er darüber unglücklich ist. 

Viel Zeit und eine intensive Begleitung sind der Schlüssel für eine erfolgreiche Integration.

„Viel Zeit“, antwortet auch Lucas Schmidetter, wenn er danach gefragt wird, was es vor allen anderen Dingen braucht, um einen zugewanderten oder geflüchteten Menschen gut in den Betrieb zu integrieren. Der Junior-Chef hat Mohammad Youssef durch die dreijährige Ausbildung begleitet und ihm geholfen, sich auf die Abschlussprüfung vorzubereiten. Gemeinsam haben sie Mathe gebüffelt, standen in der Werkstatt und haben gesägt, geschnitten und gezeichnet – immer wieder – solange bis die Handgriffe für den praktischen Prüfungsteil saßen. „Mohammad hatte von Anfang an eine so unglaubliche Willenskraft; er wollte die Ausbildung unbedingt machen, und wir wollten ihm eine Chance geben“, erinnert sich Lucas Schmidetter. 

Glaser – das war schon in Syrien sein Traumberuf. Drei Jahre hatte Mohammad Youssef als Glaser gearbeitet und gerade mit dem Gedanken gespielt, seinen eigenen Handwerksbetrieb aufzumachen, als der Krieg ausbricht. Statt ein Unternehmen zu gründen, springt er vorübergehend als Elektriker in dem Betrieb seines Bruders ein. Doch als sich die Situation in seinem Land nach zwei Jahren Bürgerkrieg nicht verbessert, steigen Mohammad Youssef und sein Bruder im Dezember 2016 in den Flieger und verlassen ihre Heimatstadt Damaskus Richtung Deutschland; zuerst landen sie in Saarbrücken, ein paar Tage später in Stuttgart. 

Über die Initiative Joblinge, die junge Menschen mit schwierigen Startbedingungen beim Einstieg in Ausbildung und Arbeit unterstützt, schickt Mohammad Youssef knapp drei Jahre später eine E-Mail mit seiner Bewerbung an den Fachbetrieb Schmidetter. „Wir waren zunächst etwas verhalten“, gibt Ausbilder Lucas Schmidetter zu. Würde das, was Mohammad Youssef in Syrien gelernt hat, den deutschen Standards entsprechen? Wie würde es mit der Sprache klappen? Nach einem Praktikum ist beiden Seiten schnell klar, dass es weitergeht, und im September 2020 beginnt Mohammad Youssef seine Ausbildung. 

Kein leichter Start, mitten in der Coronapandemie. Ein Großteil des Unterrichts an der Berufsschule kann nur online laufen und der Deutschkurs, den er so dringend bräuchte, fällt erst einmal ganz aus. Auch handwerklich muss sich der gelernte Glaser in ein ganz anderes System einarbeiten: „In Syrien haben wir nur Alufenster verbaut, einfach mit Silikon und fertig.“ Beim Fachbetrieb Schmidetter muss er auch Holz- und Kunststofffenster einbauen, nach deutschen Standards, mit Fugenbändern oder Bauschaum. Und daneben auch Rollladen, Sonnen- und Insektenschutz montieren. Aber Mohammad Youssef lernt schnell. Besonders in der Praxis.

In der Berufsschule hat er dagegen deutlich mehr zu kämpfen, vor allem mit der Sprache. Doch sein Ausbildungsbetrieb setzt sich für den lernbereiten Lehrling ein, lässt sich über die Kreishandwerkerschaft Esslingen-Nürtingen beraten, wie er am besten an einen Deutschkurs kommt. Hilft ihm, Anträge auszufüllen, eine Wohnung in der Nähe zu finden und besorgt außerdem jede Menge Bücher zum Lernen. Mit Maske sitzen Ausbilder und Azubi nach Feierabend zusammen im Büro und vertiefen das, was im Online-Unterricht zu schnell an Mohammad Youssef vorbeigegangen ist. Eine große Herausforderung, auch für Lucas Schmidetter, der das alles neben dem normalen Tagesgeschäft leistet. Trotzdem lässt auch er nicht locker. Als der junge Meister merkt, dass sein Azubi weniger mit der Mathematik an sich als vielmehr mit den kompliziert formulierten Textaufgaben Schwierigkeiten hat, nimmt er kurzerhand Kontakt mit der Berufsschule auf. Ob es denn nicht möglich wäre, einen Übersetzer zu organisieren, der bei Verständnisproblemen hilft? Auf sein Drängen hin, dürfen schließlich sieben Schüler mit geringeren Deutschkenntnissen die Prüfung in einem separaten Raum schreiben, mit einem Sprachbegleiter an ihrer Seite. 

Die praktische Prüfung besteht Mohammad Youssef mit Bravour, und auch durch den schriftlichen Teil kommt er durch. Als es Zeugnisse gibt, schickt er seinen Eltern und den beiden Schwestern, die alle noch in Syrien leben, am selben Tag ein Foto seines Gesellenbriefs. Auch sie sind stolz auf ihren Sohn und Bruder. Noch dazu, als dieser ihnen kurz darauf seinen Anstellungsvertrag bei Schmidetter zeigt. 

Wer oder was ihm die Kraft gegeben hat, trotz all der schwierigen Rahmenbedingungen durchzuhalten? „Er“, meint Mohammad Youssef grinsend und deutet dabei auf Lucas Schmidetter. Dann wird er wieder ernst. Er habe von allen Kollegen viel Unterstützung bekommen: „Jeder hat mir gezeigt, wie ich etwas machen kann und wie es schneller und besser geht.“ Überhaupt fühlt sich Mohammad Youssef in seinem Team beim Fachbetrieb Schmidetter wohl. Mit einem Mitarbeiter verbindet ihn auch eine Freundschaft. Ab und zu treffen sie sich nach Feierabend und machen gemeinsam Sport. 

Viel begleiten und sich kümmern – das ist auch der Ansatz des Projekts „Integration durch Ausbildung – Perspektiven für Zugewanderte“ der IHK Region Stuttgart. Sogenannte Kümmerer betreuen junge Geflüchtete und Zugewanderte, um mit ihnen gemeinsam einen geeigneten Start ins Arbeitsleben zu finden. So wie Monika Brucklacher für die Bezirkskammer Esslingen-Nürtingen: „Wir fördern einerseits junge motivierte Menschen mit Bleibeperspektive und tragen andererseits zur Fachkräftesicherung in den Unternehmen bei – ein Gewinn für beide Seiten.“ Das war es auch für Lucas Schmidetter und Mohammad Youssef. Für Ersteren , weil er nun eine „Top-Fachkraft“ in seinem Team hat und für den jungen Syrer, weil er sich angekommen fühlt. Nächstes Jahr feiert Schmidetter sein 100-jähriges Bestehen – mit dabei natürlich auch Mohammad Youssef.