Arnold Stadler Foto: Rudel - Rudel

Von Gaby Weiß

Charmant und mit verschmitztem Lächeln entschuldigte sich Arnold Stadler am Ende seiner Lesung beim Esslinger Publikum dafür, dass er so viel erzählt hatte: „Julien Green spricht vom ‚Übermut des Schüchternen‘. Ich bin sonst meist allein, führe keine Selbstgespräche, und wenn Sie mir schon mal die Gelegenheit zum Reden bieten, nutze ich das aus.“ Die Zuhörer genossen den Abend mit dem blendend aufgelegten Schriftsteller, der bei der LesART seinen Roman „Rauschzeit“ (S. Fischer, 26 Euro) vorstellte, in dem er die philosophische Frage „Was ist Glück?“ fast plaudernd abhandelt, Lebensumstände, Gefühlslagen und Seelenzustände präzise beschreibt, von Schmerzen und Verlusten, Träumen und Sehnsüchten, Erinnerungen und Veränderungen erzählt und dabei dem Glück in allen seinen Facetten nachspürt.

So wie Arnold Stadler sich in seinem neuen Buch viel Zeit lässt, seine klugen Gedanken zu entwickeln und sie mit ebenso anregenden wie unterhaltsamen Abstechern zu Politik, Literatur, Popkultur und Religion anreichert, so entspannt erzählte er im Alten Rathaus über seine Beweggründe, seine Arbeit und sein Leben: Er wohnt abwechselnd in Berlin, im Wendland südöstlich von Hamburg und auf dem elterlichen Bauernhof im oberschwäbischen Meßkirch.

Für Esslingen hatte Arnold Stadler drei lange Passagen aus dem 550-seitigen Roman zu einer Lesefassung mit ganz eigener Dramaturgie zusammengestellt: „‚Rauschzeit’ ist die Geschichte von zwei Liebenden, deren große Zeit vorbei ist.“ Das Buch handelt von Alain und Mausi, beide um die 40 Jahre alt, seit 15 Jahren miteinander verheiratet. Mausi hat konstatiert, ihre Beziehung sei mittlerweile mitsamt getrennten Betten und Badezimmern ins „vegetarische Lager“ gewechselt. Während Alain auf einem Kongress in Köln seine Jugendliebe Babette wieder trifft, geht Mausi zuhause in Berlin mit einem blonden Dänen in die Oper.

Ein Sprachmensch sucht neue Worte

Den Titel seines Romans hat Arnold Stadler aus der Jägersprache entlehnt: „Rauschzeit“ heißt die Paarungszeit des Schwarzwilds. „Für mich als Sprachmensch ist ‚Rauschzeit’ ein tolles, ein aufrecht stehendes Wort, ein Wort wie eine Skulptur. Andere Wörter liegen eher. ‚L’amour’ ist eindeutig ein liegendes Wort“, erklärte er mit verschwörerischem Lächeln. Immer habe er den Ehrgeiz, neue Wörter zu finden, anschaulich und trotzdem poetisch. Bildhafte Wörter, die den Reichtum der menschlichen Möglichkeiten zeigen. So wie „die Minus-Fresse“ oder „das verreckte Gesicht“, das der am Lebensglück und an sich selbst zweifelnde Alain beim Blick in den Spiegel sieht. Geistreich und klarsichtig formuliert Stadler im Buch: „Die Sprache ist nie so unerbittlich wie wir Menschen.“ Seine Sätze, so Stadler, „müssen im Leben verankert sein, als Autor möchte man seine Welt übersetzen. Schreiben ist übersetzen.“

Warum, so fragte Moderatorin Susanne Kaufmann, Mausi denn ausgerechnet Mausi heißen müsse? „Weil es diesen Namen gibt. Ich kenne eine Mausi. Ich muss beim Schreiben Boden unter den Füßen haben“, stellte Stadler klar. Im Roman heißt ein Jurist Justus, der Professor hört auf den sprechenden Namen Pfotenhauer, und der einsame Alain sitzt Alain-allein am Rhein und guckt „auf alles“. Er sinniert: „Ich war nie zur rechten Zeit glücklich“, wobei er sich andererseits sicher ist, „dass mein Leben, dass du und ich, dass wir als Glück gedacht waren“. Wie in der Musik variiert Arnold Stadler diese Leitfrage „Was ist Glück?“ als Durchführung „con variazioni“. Wobei er betonte: „So eine Komposition kommt erst zur Aufführung durch die Leser. Auf diese großen Themen haben wir keine Antworten, es gibt immer nur weitere Fragen. Und wir müssen uns mit diesen Fragen befassen, damit wir Menschen bleiben. Ein Romanautor hat versagt, wenn er nur Gedanken transportiert. Er muss die Leser mit Fragen entlassen.“

„Was ist Glück?“ heißt es gleich zu Beginn, im Verlauf des Romans und bis zum Ende des Buches immer wieder. Die Antwort im Roman lautet: „Nachher weiß man es.“ In Soren Kierkegaards Tagebüchern steht geschrieben: „Es ist ganz wahr, was die Philosophie sagt, dass das Leben rückwärts verstanden werden muss. Aber darüber vergisst man den anderen Satz, dass vorwärts gelebt werden muss.“ Wer sein Leben lebt, der kann vielleicht ein paar Antworten finden. „Das Leben verwarten und vertun ist das Schlimmste, das man tun kann“, gab Arnold Stadler seinem Esslinger Publikum mit auf den Nachhauseweg. Im Roman heißt es mehr als einmal: „Die Welt war der Ort, wo uns die Zeit davonlief.“