Ob als Treffpunkt, als Ort der Bildung oder der Kultur - die Esslinger Stadtbücherei im Bebenhäuser Pfleghof wird von vielen geschätzt. Foto: Bulgrin Quelle: Unbekannt

Von Alexander Maier

Keiner versteht es so brillant wie er, die Mittelmäßigkeit des Lebens in Worte zu fassen. Wilhelm Genazinos Protagonisten sind nicht mehr ganz jung, sie haben eine solide Ausbildung, trotzdem stecken sie beruflich in der Sackgasse, und irgendwann müssen sie feststellen, dass ihnen das Leben längst nicht das gebracht hat, was sie sich erträumten. Solchen Figuren nähert sich der Büchner-Preisträger in seinen Romanen mit Vorliebe. Jeder beleuchtet auf eine etwas andere Weise die ganze Tragik der menschlichen Existenz. „Außer uns spricht niemand über uns“ heißt Genazinos jüngster Roman, den er nun bei den Esslinger Literaturtagen LesART vorstellte. Und wie immer gelingt es dem Autor, die ganze Banalität einer menschlichen Existenz, die weder gelungen noch so richtig krachend gescheitert ist, sprachlich brillant zu beschreiben. Und über allem steht die Erkenntnis, dass uns Belanglosigkeiten auf Schritt und Tritt begleiten. Und dass keiner vor ihnen sicher ist - noch nicht mal ein mit vielen Würdigungen bedachter Schriftsteller.

Weit und breit Bedeutungslosigkeit

Wilhelm Genazino hat sein großes Thema und seinen unverwechselbaren Stil gefunden. Und es gibt nicht wenige, die jedes seiner Bücher wie eine Fortsetzung des vorherigen lesen. So fügt sich sein literarisches Werk zu einem Bestiarium menschlicher Existenzen zusammen. Der Titel seines jüngsten Romans (Hanser-Verlag, 18 Euro) könnte wie ein Leitmotiv über vielen seiner Bücher stehen: „Außer uns spricht niemand über uns“. Denn all seine Helden leiden darunter, dass sie von anderen kaum wahrgenommen werden, dabei wünschen sie sich nichts sehnlicher, als wenigstens ein kleines bisschen Beachtung zu finden. Wobei die Frage erlaubt sein muss, wofür sie eigentlich Beachtung finden wollen. Sie lassen sich treiben, ihr Leben ist ein langer, ruhiger Fluss, Ausschläge nach oben wie nach unten sind so gut wie nicht zu erwarten - mal abgesehen von den kleinen Tragödien des Alltags, die der Autor so fein beobachtet.

In dieses Raster passt auch der Protagonist in Genazinos jüngstem Roman - ein namenloser Ich-Erzähler, der uns dank freundlicher Vermittlung des Autors an seinen Gedanken und Empfindungen (wenn man sie überhaupt so nennen darf) teilhaben lässt: Eigentlich wollte er ein gefeierter Schauspieler werden, doch bis auf ein kurzes Engagement an einem Stadttheater (laut Genazino völlig belanglos) und der knappen Erwähnung in der (für ihn nicht minder belanglosen) Lokalzeitung ist es beim Traum geblieben. Nun schlägt er sich mehr schlecht als recht mit kleinen Engagements als Rundfunksprecher durch und wartet darauf, dass sich etwas ergibt, wofür er selber allerdings nur wenig tut. Die einzige, die ihn wenigstens ab und an zu kleinen seismografischen Gefühlsausschlägen bewegt, ist seine Freundin Carola. Doch der Sex mit ihr ist ebenfalls eine eher trostlose Angelegenheit. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn sie den Mut gehabt hätten, ein Kind zu bekommen. Doch auch dafür ist der Zug des Lebens abgefahren. Irgendwann gibt ihm Carola den Laufpass - die Leere, die sie hinterlässt, füllt er durch irgendwelche Nichtigkeiten auf. So zieht der Strom des Lebens wie verbrauchte Luft an ihm vorbei, wie es der Autor formuliert.

„Früher haben die Leute erwartet, dass der Held in solchen Büchern ein Proletarier ist“, erklärte Wilhelm Genazino im LesART-Gespräch mit Uwe Kossack. „Doch plötzlich ist Anfang der 70er-Jahre der Angestellte in der Literatur aufgetaucht.“ Der Büchner-Preisträger war einer der ersten, die sich damals solchen Figuren zugewandt haben. Und er ist ihnen bis heute treu geblieben. Als literarische Figur hat der Angestellte allerdings eine weitaus längere Tradition: Schon in den späten 20er- und frühen 30er-Jahren haben sich Autoren solchen Existenzen gewidmet - von Falladas „Kleinem Mann“ über Kästners „Fabian“ bis hin zu Irmgard Keuns „Kunstseidenem Mädchen“. Und Sätze, wie man sie bei Keun liest, könnte auch Genazinos namenloser Ich-Erzähler sagen: „Liebe an sich strengt an.“

Schluss mit lustig

So belanglos Wilhelm Genazino seine Protagonisten zeichnet, so nachsichtig ist er ihnen in seinen Romanen immer begegnet. Ihn reizt ihre Widersprüchlichkeit, weil sie von einem bedeutsamen Leben träumen, dafür jedoch nichts tun, und im Grunde mit dem Wenigen zufrieden sind. Sie spüren, dass in ihrem Leben etwas schiefgelaufen ist, doch ihnen fehlt die Kraft und häufig die Fantasie, etwas dagegen zu unternehmen. Liest man Genazinos neuen Roman, kann man den Eindruck bekommen, dass der Büchner-Preisträger so langsam die Geduld mit seinen tragischen Helden verliert. Plötzlich zeigt sich hinter dem nachsichtigen Lächeln des Autors eine Spur von Boshaftigkeit, die einen seltsam berührt. Und man darf sich fragen, was Geschichten wie diese über eine Gesellschaft sagen, die solche Existenzen hervorbringt. Diesen Schritt muss der Leser jedoch alleine gehen.