ES-TV: Sahra Wagenknecht stellt im ausverkauften Neckar Forum ihr neues Buch vor

Von Alexander Maier
Wenn Sahra Wagenknecht den Zustand unserer Gesellschaft auf den Punkt bringen will, zitiert sie gerne William Shakespeare: „Die Zeit ist aus den Fugen.“ Es ist kein Zufall, dass die Linken-Politikerin diese Worte ihrem neuen Buch vorangestellt hat. „Reichtum ohne Gier“ heißt es, und die promovierte Volkswirtin plädiert darin für die Abkehr von einem Kapitalismus, wie wir ihn heute mit zunehmender Intensität erleben. Das klingt revolutionär, spricht jedoch vielen aus der Seele. Als die Oppositionsführerin im Bundestag nun ihr neues Buch bei der Esslinger LesART vorstellte, war das Neckar Forum ausverkauft. Viele kamen aus Überzeugung, manche aus Neugier auf eine Frau, die als Ikone der Linken gilt. Und die in einer Welt der Sachzwänge und angeblichen Alternativlosigkeiten nicht aufhört, für ihre Vision einer gerechteren Gesellschaft zu werben. Dass ihre Gedanken bei vielen ankamen, zeigte der donnernde Schlussapplaus.

Kritik an feudalen Strukturen

Sahra Wagenknechts Zeitdiagnose ist eindeutig: „Unsere Gesellschaft entwickelt sich in einer Weise, die uns zu der Frage drängt, ob wir das so wollen.“ Ihr Missfallen illustriert sie mit diversen Beispielen - etwa dem Hinweis, dass viele Menschen, die ein Leben lang gearbeitet hatten, im Alter von ihrer Rente nicht leben können. Dass immer mehr Kinder „von der Teilhabe an einer schönen, bunten Welt ausgeschlossen sind“. Oder dass die Chancen geringer werden, sich aus einfachen Verhältnissen durch Wissen und Können hochzuarbeiten. Für Wagenknecht ist klar: „Heute sind Reichtum und Armut erblich. Das sind Strukturen, die ich feudal nenne und die sich verfestigen.“

Ein Abschied vom Kapitalismus heutiger Prägung - das mag im Land der Häuslebauer für viele verstörend klingen. Doch die Politikerin sorgte im Gespräch mit Kulturbürgermeister Markus Raab, der humorvoll und klug durch den Abend führte, für Klarheit: „Ich will keinem sein Häuschen wegnehmen. Persönliches Eigentum ist ein Grundrecht. Es geht darum, wie wir unser Wirtschaftseigentum gestalten. Unternehmen mit 20 000 Beschäftigten und mehr sind keine Privatsache mehr. Da können Gebilde entstehen, die unsere Demokratie konterkarieren - man denke nur an die Digital-Branche.“ Und mit Blick auf den fast nahtlosen Übergang einflussreicher Politiker in hoch bezahlte Wirtschaftspositionen befand Wagenknecht: „Das kann Abhängigkeiten erzeugen.“ Denen, die keine Veränderungen wollen, gab sie zu bedenken: „Die Marktwirtschaft wird heute bereits in vielen Bereichen untergraben. Wenn man dem Markt keine Regeln gibt, zerstört er sich selbst.“

Wenn Sahra Wagenknecht für eine Neuordnung des Wirtschaftseigentums plädiert, denkt sie nicht etwa an eine Rückkehr zum Staatskapitalismus, wie es ihn in der DDR gab: „So wollte ich nicht mehr leben. Da gibt es viel intelligentere Lösungen - zum Beispiel Stiftungsmodelle. Warum sollen nicht diejenigen, die die Leistung im Unternehmen erbringen, auch über den Kurs der Firma entscheiden? Die Gewinne bleiben im Unternehmen, die Firma wäre dauerhaft gesichert - auch dann, wenn der Eigentümer in seiner Familie keinen Nachfolger findet. Bei Carl Zeiss in Jena, die diesen Weg schon 1891 gegangen sind, sieht man, wie gut solche Lösungen funktionieren.“ Dass ihre Überlegungen gar nicht so revolutionär sind, wie manche glauben, machte Markus Raab deutlich: Er konfrontierte Sahra Wagenknecht mit Texten, die vieles von dem fordern, was sie für richtig hält. Und dann die Überraschung: Ein Blick ins Ahlener Programm der CDU von 1947 oder in Programme der Jungen Union aus den 1970er-Jahren zeigt überraschende Parallelen. „Wann hat die Veränderung unserer Gesellschaft begonnen?“, wollte Raab wissen. Für Sahra Wagenknecht fing das schon in den 1980er-Jahren unter Helmut Kohl an. Doch das, was sie als sozialpolitischen Sündenfall versteht, kreidet sie Schröder und seiner rot-grünen Regierung an: „Die haben mit ihrer Agenda 2010 den brutalsten Sozialabbau ermöglicht, den es je gab. Eine Super-Vorlage für die Rechten.“

Keine Lust auf deutschen Trump

Sahra Wagenknecht sieht in weiten Bereichen von Gesellschaft, Politik und Wirtschaft Handlungsbedarf: Den Hinweis, dass sich tief greifende Reformen in einer globalisierten Welt mit all ihren Verflechtungen gar nicht mehr realisieren ließen, kontert sie: „All diese Vereinbarungen sind von Menschen gemacht. Man muss sie nicht machen, und man kann vieles im Sinne einer breiten Mehrheit verändern.“ Sahra Wagenknecht weiß, was sie anpacken würde, wenn die Linke in Regierungsverantwortung käme: „Wir müssen etwas gegen die soziale Ungleichheit tun, wir müssen Ungerechtigkeiten am Arbeitsmarkt beseitigen und für Steuergerechtigkeit sorgen.“ Das sei ein Gebot der Vernunft: „Je ungerechter eine Gesellschaft ist, desto mehr neigen viele dazu, die Ellbogen auszufahren. Ungerechtigkeit verändert die Menschen.“ Wenn die etablierte Politik nicht gegensteuere, wenden sich nach Wagenknechts Einschätzung immer mehr Wähler den Rechtspopulisten zu - so, wie das in Frankreich drohe. „Die Politik könnte etwas gegen die Ungerechtigkeit tun, die viele ärgert, aber sie will nicht“, moniert Wagenknecht. „Das ist gefährlich, weil man Leuten wie Trump das Feld überlässt. Wir sollten nicht warten, bis es hier auch so weit ist.“