Beim Benefizessen in Esslingens guter Stube zeigt Kathrin Entenmann ihr Talent als Servicekraft. Foto: Weber-Obrock Quelle: Unbekannt

Von Petra Weber-Obrock

Cataguases ist der Nabel der Welt. In Luiz Ruffatos fünfbändigem Zyklus „Vorläufige Hölle (Inferno provisório)“ spiegelt das Kaff im brasilianischen Bundesstaat Minais Gerais die Geschichte Brasiliens von den fünfziger Jahren bis in die Neunziger. In seiner dichten Prosa gibt Ruffato, selbst Sohn einer armen Migrantenfamilie, den Land- und Fabrikarbeitern eine Stimme, die als menschliche Manövriermasse zu Opfern des industriellen Aufschwungs wurden. Am Freitag stellte er bei LesART gemeinsam mit seinem Übersetzer Michael Kegler Ausschnitte aus seinen Werken vor. 2016 wurden sie gemeinsam mit dem Internationalen Hermann-Hesse-Preis ausgezeichnet.

Von Ruffatos fünfbändigem Zyklus „Vorläufige Hölle“ liegen auf Deutsch inzwischen die Bände „Mama, es geht mir gut“ und „Feindliche Welt“ (beide Assoziation A, je 18 Euro) vor. Der dritte Band „Teilansicht der Nacht“ wird im nächsten Jahr in einer Übersetzung von Michael Kegler auf Deutsch erscheinen. Die Gäste stellten Auszüge aus allen drei Werken vor. Luiz Ruffato wurde 1961 in Cataguases geboren und arbeitete neben seinem Studium als Verkäufer, Textilarbeiter und Schlosser und anschließend als Journalist in Sao Paulo. Für sein literarisches Werk erhielt er viele Auszeichnungen. „Der Romanzyklus „Vorläufige Hölle“ (Inferno provisório) zeichne den Weg aus einer ländlich geprägten in eine urbane Gesellschaft nach, sagte Michael Kegler. Er übersetzt nicht nur Ruffatos hochkomplexe Texte ins Deutsche, sondern war während der Lesung auch dessen Stimme und Kontakt zum Publikum.

Entwurzelte Menschen

Seine Bücher seien Versuche, die Auswirkungen der Industrialisierung auf die Menschen zu verstehen, erklärte Luiz Ruffato. „Ich beschreibe die Entwurzelung der Menschen.“ Messerscharf skizziert er in seinen Texten den Zerfall der Familie, die einst Schutz geboten hat. Ausgehend vom bitterarmen Landleben in den Fünfzigern spannt er den Bogen über den Aufbruch der Sechziger und die Zeit der Militärdiktatur in den Siebzigern bis in die Zeit der Postindustrialisierung in den neunziger Jahren. In seiner Analyse der großen, auch weltumspannenden Zusammenhänge kommt er den Menschen der Unterschicht nahe, deren Stimme sonst ungehört verhallt.

Seine Protagonisten entstammen teilweise den Kreisen der italienischen Einwanderer in Brasilien. Er schreibt von Carlos und seiner Mutter, die während einer Autofahrt ins Gespräch über Torten aus Löffelbiskuits kommen, vom Fabrikarbeiter Lusimar auf seinem klapprigen Fahrrad, der seinen Jugendfreund mit dem VW-Käfer wieder trifft. Was alltäglich und unspektakulär anmutet, birgt den Zündstoff des Scheiterns der eigenen Existenz. Ruffatos Sprache überrascht durch ihre Vielfalt. Wie in einer Collage wechseln Schriftarten, Erzählzeiten und Perspektiven. Dennoch wirken die kurzen Kapitel unglaublich prall, dicht und nah am pulsierenden Herzen der wechselnden Erzähler.

In „Teilansicht der Nacht“ hängt die latente Bedrohung durch die Militärdiktatur über dem Geschehen. Zum Abschluss fragte das Publikum nach der Abwesenheit der brasilianischen Lebensfreude, der Hoffnung und der „Allegria“ in den Texten. Warum seien die Bücher so pessimistisch? „Auch in der Psychoanalyse kommt mit dem Eingeständnis, dass man ein Problem hat, der Wille zur Veränderung.“ Ihm gehe es darum, so aufrichtig wie möglich zu sein und den Menschen Würde zu geben, sagte er.