Quelle: Unbekannt

Von Gaby Weiß

Die Ratsstube im Alten Rathaus setzt sich zu Beginn des Abends mit einem Knarzen unbekannter Herkunft zur Wehr, die Rathaus-Uhr beginnt - just bei dem Satz „Maschinen schalten sich ins Geschehen ein“ - zu schlagen. Das Ambiente mit massivem Mobiliar und wuchtiger Holzvertäfelung droht den äußerst zurückhaltend auftretenden Johann Reißer beinahe zu erschlagen. Und trotzdem gelingt es dem diesjährigen Bahnwärter-Stipendiaten mit seiner so federleicht, sprachgenau und heiter daherkommenden Prosa, das Publikum bei seiner Lesung im Rahmen der Esslinger Literaturtage LesART in den Bann zu ziehen.

In Johann Reißers derzeit entstehendem Romanprojekt „Land Maschinen Paradies“ geht es um drei junge Erwachsene, die in der bayrischen Provinz eine bizarr anmutende Geschäftsidee verfolgen: Ein „Paradies“ wollen sie schaffen, eine Wellness- und Eventlandschaft im Kuhstall, im gemütlich-bayrischen Stil mit leicht tropischer Anmutung. Da soll die längst verloren gegangene Wald- und Wiesenromantik zur Industrie werden, und für den Ich-Erzähler nebenbei eine „leitende Funktion im ‚Paradies‘“ abfallen. „Solche künstlichen Welten, die mit Erinnerungen und Versatzstücken aus der Vergangenheit arbeiten, interessieren mich stark, manches scheint absurd und überzeichnet, aber es ist nicht so weit von der Realität entfernt“, erklärt Johann Reißer.

Kulturamtsleiter Benedikt Stegmayer, der den Abend moderiert, zieht als aktuellen Beleg für diese These den Mittelalter- und Weihnachtsmarkt heran, der den Esslinger Stadtraum in den kommenden Wochen in genau so eine künstliche Welt verwandle. In seiner Arbeit als Prosa-, Lyrik- und Theaterautor legt Johann Reißer Querschnitte an, die auch die Schichtungen des Vergangenen zeigen, selbst wenn sie verändert und neu arrangiert werden: „Mich faszinieren diese unteren Schichten, die noch aktiv sind und die wieder hoch- und ans Licht kommen.“

Zu Reißers Interessenlinien gehören auch die lebensweltlichen, wirtschaftlichen und baulichen Umbrüche in Stadt und Land: Wie verändert sich die Lebensrealität, wenn sich in einem radikalen Strukturwandel eine bäuerlich geprägte Landschaft in eine Industrieregion verwandelt? Der Ich-Erzähler Josef, der als Junge auf dem Land „mit Bulldogs sozialisiert“ wurde, erkennt die Veränderung: Die Traktoren, mit denen einst Nahrung erzeugt, später die Landschaft umstrukturiert und der Reichtum erwirtschaftet wurde, begeistern heute nur noch Oldtimer-Fans, die auf Retro-Events im heißen Kühlerwasser ihre Weißwürste erhitzen.

Die drei Protagonisten wollen Sehnsuchtsländer schaffen, „eine endzeitliche Glücksfabrik inszenieren“, einen Stall ins „Paradies“ verwandeln und nebenbei natürlich ein rentables Riesengeschäft aufziehen. Wie die Utopie Wirklichkeit und wie die Wirklichkeit Utopie werden könnte - das entwickelt Johann Reißer ironisch und kritisch zugleich. Das ist klar und ausdrucksstark, dabei spielerisch und sehr unterhaltsam. Sensibel fängt der 36-jährige Autor die Eigenwilligkeiten seiner ostbayrischen Heimat ein, sorgfältig beobachtet er und feinfühlig lauscht er dem Leben. Und dann wird - mit Blick auf Geschichte, Politik und Gesellschaft - verdichtet, vertieft und das Mit- sowie Weiterdenken herausgefordert.

„Wenn man die Absurditäten ernst nimmt, funktionieren sie wirklich gut“, zeigt sich der studierte Philosoph und promovierte Literaturwissenschaftler verblüfft: „Die drei wollen das Paradies in Serie produzieren. Der Mensch ist immer damit beschäftigt, sich bessere und angenehmere Welten auszudenken“, hat er beobachtet. Mehrere kurze Passagen aus dem ersten Teil seines noch nicht vollendeten Romans liest Johann Reißer an diesem Abend. Mehr wolle er eigentlich nicht verraten. Nur so viel: „Es läuft auf einen Höhepunkt zu, an dem das Scheitern beginnt.“

„Es geht um eine zu schützende Art“

In ihrer Laudatio begründet die Schriftstellerin Marlene Streeruwitz, weshalb ihre Wahl für das diesjährige Bahnwärter-Stipendium auf Johann Reißer gefallen ist: Weil sein Text „befragt und nicht schon alles weiß“. Ihm gelinge es, Aspekte „in Literatur zu verwandeln, die den Lesern die Möglichkeit gibt, weiterzudenken“. Eindringlich plädiert die Autorin dafür, dass „alle Literaturschreibwilligen ihr Auskommen haben. Es geht um eine zu schützende Art.“ Sonst drohe die Gefahr der Erstickung „der einzelnen literarischen Stimme“. Die Folgen für Freiheit, Autonomie und Demokratie seien nicht auszudenken. Ein Ehepaar hätte Streeruwitz‘ tiefgründige Gedanken gerne schriftlich vor sich gehabt: „Das ging mir nur beim Zuhören zu schnell, das war ja wie eine Universitätsvorlesung. Das würde ich gerne nachlesen und in Ruhe darüber nachdenken.“