Quelle: Unbekannt

Von Alexander Maier

Es ist nicht leicht, eine Metropole der Moderne literarisch zu erfassen. Unterschiedlichste Sinneseindrücke fügen sich zu einer vielstimmigen Sinfonie der Großstadt zusammen. Ein Autor, der sich einer konventionell-linearen Erzählweise bedient, würde unweigerlich scheitern. Gerhard Falkner hat darauf seine eigene Antwort gefunden. Der renommierte Lyriker zeichnet in seinem Roman-Debüt „Apollokalypse“ ein facettenreiches Bild der 80er- und 90er-Jahre in Berlin. Kritiker haben sein Buch mit unterschiedlichsten Etiketten versehen. Einig waren sich alle darin, dass Falkner eine der herausragenden Neuerscheinungen dieses Jahres gelungen ist. Nun bescherte er auch dem LesART-Publikum einen spannenden Abend, der freilich nicht nur den Zuhörern, sondern auch Moderatorin Sabine Freudenberg manch harte Nuss zu knacken gab.

Schönheit, Verführung und Untergang

Es gehört zum Wesen einer Lesung, dass sie nur wenige Appetithäppchen eines Buches servieren kann. Der Autor liest einige charakteristische Passagen und gibt zwischendurch Erhellendes zu seinem neuen Werk zum Besten. Oft geht das Publikum dann in dem Gefühl nach Hause, das Werk erfasst zu haben. Bei einem Roman wie „Apollokalypse“ (Berlin-Verlag, 22 Euro) ist das deutlich komplizierter. „Das Prinzip des Pars pro toto funktioniert bei diesem Buch nicht“, weiß Gerhard Falkner. „Wenn er nur drei Kapitel gelesen hat, versteht das kein Mensch.“ Erst in der kompletten Lektüre fügt sich jenes Bild, das der Autor zeichnen wollte - wobei er besonders auf die letzten 40 Seiten hinweist: „Da wird das ganze Ding wieder auf den Boden gestellt.“ Sollte man dann vielleicht gleich mit dem Schluss anfangen? Falkner winkt ab: „Dann fehlen Ihnen ja die ganzen Zusammenhänge.“

Deshalb ist der Leser gut beraten, wenn er angesichts von 432 Seiten und einer Fülle bisweilen hymnischer Besprechungen gar nicht erst in ehrfürchtigem Respekt erstarrt, sondern sich einfach ins Lesevergnügen stürzt. Dass einem ob der Fülle von Eindrücken und Figuren unterwegs manchmal die Puste auszugehen droht, wird billigend in Kauf genommen. „Bereits der Titel macht neugierig“, befand Bücherei-Leiterin Gudrun Fuchs. Doch da ließ sie der Autor nicht lange im Unklaren. Dreierlei kommt in „Apollokalypse“ zusammen: Da ist Apollo, der als Gottheit für das Schöne steht, da ist Calypso, die antike Verführerin, und da ist die Apokalypse, in der sich beide irgendwie vereinen.

Dringt man tiefer in die Geschichte ein, wird’s etwas komplizierter. Im Mittelpunkt steht ein gewisser Georg Autenrieth, den es in den 80er- und 90er-Jahren immer wieder aus Westdeutschland nach Berlin zieht. Er geistert durch die Stadt, ist plötzlich verschwunden und dann genau so unvermittelt wieder da. Er ist ständig in der Szene unterwegs, begegnet Lebenskünstlern und verbrauchten Existenzen, hat auf eine mysteriöse Weise mit Stasi, BND und RAF zu tun und zelebriert Laster, Lebensgier und Liebeskunst - und das nicht zu knapp. Und irgendwie ist er typisch für das damals noch geteilte Berlin, das einem ebenso großmannssüchtig wie verratzt, ebenso reizvoll wie rätselhaft, ebenso schillernd wie verstörend vorkam. Das den Berlinern das Gefühl gab, in der weltoffensten aller von der Welt abgeschnittenen Städte zu leben. Und in der man nie das Gefühl hatte, „das Leben könnte jemals damit aufhören, einen verrückten Tag nach dem anderen zu produzieren“, wie es Gerhard Falkner formuliert. Am allerwenigsten in Kreuzberg, dem bevorzugten Revier seines Protagonisten, das bis heute liebevoll SO36 genannt wird.

So zerrissen wie die ganze Stadt

Er ist nicht leicht zu fassen, dieser Georg Autenrieth. Sein Lebenswandel ist unmoralisch, er liebt das Schöne und den Genuss, er begegnet uns mal als Ich-Erzähler und mal als distanzierter „Er“, und er bleibt bis zuletzt rätselhaft. Eine in sich gespaltene Persönlichkeit, so zerrissen wie das damalige Berlin. Und damit ist er ein Stück weit typisch für eine Zeit, in der sich jener Ich-Verlust, der unsere heutige Gesellschaft immer stärker prägt, durchzusetzen begann. „Der Gedanke der Abwesenheit in der Anwesenheit hat mich schon lange beschäftigt“, bekennt Falkner, der mit Blick auf Autenrieth Rimbaud zitiert: „Ich ist ein anderer.“

„Apollokalypse“ ist ein wuchtiger, erkenntnisreicher, unterhaltsamer, lebenspraller, bisweilen witziger, oft sehr direkter und komplexer Roman, in dem die Großstadt nicht nur Kulisse ist, sondern selbst zu einem der Protagonisten wird. Immer wieder baut der Autor geistes- und kulturgeschichtliche Anklänge ein. „Muss man all das wissen, um den Roman zu verstehen?“, wollte Moderatorin Sabine Freudenberg wissen. Der Autor beruhigt: „Ich habe versucht, das Buch so zu schreiben, dass es nicht zu kopflastig und damit zu schwer verständlich wird. Aber wenn man meine Anspielungen erkennt, ist es natürlich auch kein Fehler.“