Schon Anfang des 20. Jahrhunderts war der Gönninger „Tulpenfriedhof“ eine touristische Attraktion, die sich sogar die württembergische Königin Charlotte anschaute. Jetzt lebt die Tradition wieder auf. Quelle: Unbekannt

Von Dagmar Weinberg (Text) und Klaus Franke (Fotos)

Sie heißen „White Elegance“, „Moonshine“, „American Dream“ oder „Pretty Woman“ und blühen in dezentem Weiß, zartem Gelb, sanftem Orange oder in Blutrot. „Jedes Jahr kommen mehrere hundert Tulpensorten neu auf den Markt“, sagt Hartmut Fetzer, der in der fünften Generation die gleichnamige Gönninger Samenhandelsfirma leitet. Farblich stehen bei den Züchtungen nicht selten die Laufstege der Mode Pate hat der Experte beobachtet, der die Neuheiten auf einem Probefeld testet. Auch wenn sich am Ende nur wenige Sorten bewähren, gibt es inzwischen eine ungeheure Vielfalt der Zwiebelgewächse. „Tulpen haben in den vergangenen Jahren eine wahre Renaissance erlebt.“ Das liegt nach Hartmut Fetzers Einschätzung zum einen daran, „dass man mit keiner anderen Frühjahrsbepflanzung eine solche Farbintensität hinbekommt, wie mit Narzissen und Tulpen.“ Zum anderen sind die bunten Frühjahrsboten anspruchslos und gedeihen auch auf kargen Böden. Schließlich haben die Vorfahren der heutigen Zuchttulpen „ihre Heimat in den Berg- und Steppenregionen Vorderasiens“, erklärt Margarete Walliser, die sich als Vorsitzende des Vereins Gönninger Tulpenblüte nicht nur mit der Historie der Gönninger Samenhändler beschäftigt hat. Die promovierte Kunsthistorikerin hat auch der Geschichte der einst so wertvollen Zwiebelgewächse nachgespürt.

Bereits im 13. Jahrhundert wurden die zu den Liliengewächsen gehörenden Pflanzen an den Herrschaftshöfen Vorderasiens gezüchtet und hoch gepriesen „In Persien und der Türkei war die Tulpe eine religiöse Pflanze“, weiß Margarete Walliser. Denn in ihrem persisch-türkischen Namen „lale“ stecken „dieselben Buchstaben wie das Wort Allah“. An den Höfen der Sultane wurden jedes Jahr große Tulpenfeste gefeiert. „Damit ehrte man auch Allah“, erläutert die Expertin, die beim Landesamt für Denkmalpflege arbeitet. Die orientalischen Schönheiten hatten es vor allem Sultan Suleimann II. angetan, der 1574 sage und schreibe 50 000 Tulpenzwiebeln bestellt haben soll. Auch seine seidenen Gewänder ließ er mit Reihen von Tulpen besticken. Ihren botanischen Namen soll die Tulipa vom persischen Wort Dulbend haben, was übersetzt Turban heißt. Schließlich ähnelt die Form der Frühlingsblume der männlichen Kopfbedeckung in ihrer persischen Heimat.

Der flämische Botschafter Ogier Ghislan des Busquec soll die erste Zuchttulpe nach Europa gebracht haben. „In Frankreich und Holland entwickelte sich die Tulpe schnell zur Blume der Gesellschaft“, hat Margarete Walliser herausgefunden. Modebewusste Französinnen, die über das nötige Kleingeld verfügten, trugen im Frühjahr einen Strauß Tulpen im Ausschnitt ihres Kleides. Um die Tulpenzwiebeln entwickelte sich ein regelrechter Hype. „Die Preise stiegen horrend und vor allem die beliebteste Tulpe, die Semper Augustus, hatte am Ende den Gegenwert einer kompletten Mühle“, erklärt Margarete Walliser. Das konnte auf Dauer nicht gut gehen. In einer Art Glücksspiel wurden Tulpenzwiebeln in den Hinterzimmern der Wirtshäuser gehandelt und der Preis unvorstellbar in die Höhe getrieben. „Als es 1637 zum ersten Börsencrash kam, hatten viele nicht nur ihr Vermögen, sondern auch ihr Leben verloren.“

Als an den orientalischen Herrschaftshöfen der Tulpe gehuldigt wurde, „war bei uns in Gönningen noch finsterstes Mittelalter und vom Samenhandel noch lange keine Rede“, sagt Margarete Walliser. Durch die verheerenden Folgen des Dreißigjährigen Krieges sowie den Spanischen Erbfolgekrieg mussten sich auch die Gönninger nach neuen Erwerbsquellen umschauen. Viele wanderten aus. Die Daheimgebliebenen suchten ihr Glück im Hausierhandel. „Schon in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gingen Gönninger auf Reisen“, hat die Vereinsvorsitzende recherchiert. Zunächst nahmen die Hausierer, deren Geschichte im Gönninger Samenhandel-Museum dokumentiert wird, vor allem das mit, was vor der Haustür wächst: Obst und Dörrobst. Bald kamen Sämereien sowie Blumen- und Gemüsezwiebeln hinzu. „Seit Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelten sich die teuren Tulpenzwiebel zu einer wichtigen Handelsware“, berichtet Margarete Walliser. Vor Ort wurden aber keine Samen oder Zwiebeln gezüchtet. „Das Klima hier ist zu rau, so dass sich die Händler auf den Vertrieb der Tulpenzwiebeln spezialisiert haben.“

Im 19. Jahrhundert war mehr als die Hälfte der Dorfbewohner auf Reisen. Der Aktionsradius der Samenhändler erstreckte sich über ganz Europa bis hinein nach Russland, wohin nach den Napoleonischen Kriegen auch viele Familien aus Gönningen ausgewandert waren. Einige Samenhändler gründeten eigene Niederlassungen im Ausland. „Sogar in New York gab es Geschäfte Gönninger Ursprungs“, erzählt die Kunsthistorikerin. Der Samenhandel brachte Wohlstand ins Dorf. „Viele Händler sind sehr reich geworden.“ Um ihren sozialen Status zu dokumentieren, bepflanzten die wohlhabenden Familien ihre Vorgärten und den parkähnlichen Friedhof mit den wertvollen Zwiebelpflanzen. Der „Tulpenfriedhof“ wurde rasch zu einer touristischen Attraktion. 1912 kam sogar die württembergische Königin Charlotte nach Gönningen, um die üppige Blütenpracht zu bewundern.

Seit den 80er-Jahren geriet der Brauch, die Gräber mit Tulpen zu bepflanzen, zunehmend in Vergessenheit - bis die Gönninger ihn 2004 in einer konzertierten Aktion wieder aufleben ließen. Im Jahr zuvor hatten der damalige Ortschaftsrat und einige engagierte Samenhändler die Initiative ergriffen und mit Unterstützung der Vereine, Kirchen, Schulen sowie vieler Privatleute auf dem Friedhof und öffentlichen Plätzen 45 000 Blumenzwiebeln gesteckt. Das Engagement wurde belohnt. Es kamen nicht nur Tausende Besucher in die Gemeinde, die seit 1971 der südlichste Stadtteil Reutlingens ist. Auch die Landesstiftung Baden-Württemberg hat die Initiative mehrfach belohnt. Um die Tradition lebendig zu halten, wurde 2006 der Verein Gönninger Tulpenblüte gegründet. Der organisiert nicht nur die Tulpensonntage im Frühjahr sowie einen herbstlichen Markt. Margarete Walliser und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter betreuen einen kleinen Lehrgarten, koordinieren Pflanzaktionen und geben die Tradition an den Nachwuchs weiter. So kann man an den Tulpensonntagen überall im Ort Pflanzkübel bewundern, die im Rahmen des Projekts „Jugend engagiert sich“ von Schülerinnen und Schülern gestaltet wurden. „Es ist toll zu sehen, wie die Kinder das Wachsen der Tulpen beobachten und wie fasziniert sie von der bunten Blütenpracht sind“, sagt die Vereinsvorsitzende. Und die Mühe der Kinder wird belohnt. „Am ersten Tulpensonntag bekommen sie eine Urkunde, die natürlich ganz wichtig für sie ist.“

Bei den Gönninger Tulpensonntagen erblüht der ganze Ort. Der erste Tulpensonntag wird in diesem Jahr am 23. April gefeiert. Zwischen 11.15 und 18 Uhr präsentieren im alten Ortskern von Gönningen Aussteller aus der Region frühlingshafte Kunst, Kunstgewerbe, Gefilztes, Gemaltes, Florales und vieles mehr. Die örtlichen Vereine sorgen für kulinarische Genüsse. Am 30. April wird unter dem Motto „Was blüht denn da“ der zweite Gönninger Tulpensonntag gefeiert. Von 11 bis 17 Uhr gibt es rund um Fetzers Probefeld, das in der Lichensteinstraße 74 am Ortsausgang Richtung Sonnenbühl liegt, eine bunte Tulpenschau mit Musik und Bewirtung.

www.tulpenbluete.de