Heidrun Bayer gestaltet Steinmurmelschmuck, den sie bei Art und Wert zeigt. Die Rohlinge fallen bei der Produktion in der Kugelmühle in Neidlingen an. Quelle: Unbekannt

Von Alexander Maier (Text) und Roberto Bulgrin (Fotos)

Wer heutzutage auf sich hält, spricht sich ganz selbstverständlich für nachhaltiges Wirtschaften aus. Doch zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft viel zu häufig eine tiefe Lücke: Was nicht mehr in Mode ist, wird kurzerhand entsorgt - der nächste Einkauf kommt bestimmt. Doch mittlerweile gibt es eine Gegenbewegung, die immer mehr Anhänger findet: Upcycling nennt sie sich - aus ausgedienten Materialien wird Neues und Wertvolles kreiert. So entstehen aus alten Zeitungen nützliche Einkaufstüten, aus Büchern können Vasen werden, die ausgediente Jeans wird zum originellen Yogamatten-Beutel umgestaltet, und aus der einstigen Lieblingsbluse, die nicht mehr so recht in Mode ist, wird dank kreativer Bearbeitung ein Schal, wie es ihn nur ein einziges Mal gibt. Das alles findet in der Esslinger Galerie Art und Wert seinen Platz: Die Künstlerin Andrea Menze hat ihren einstigen Friseursalon im Oberen Metzgerbach umfunktioniert - wo früher Haare gefärbt und Dauerwellen gelegt wurden, kann man nun in die Welt des Upcyclings eintauchen, Unikate kaufen oder Anregungen für die eigene kreative Arbeit bekommen.

Neue Attraktivität für die Altstadt

Der Obere Metzgerbach ist Andrea Menze ans Herz gewachsen, auch wenn sich dort so manches nicht zum Positiven entwickelt hat: Die Stadt hat zuletzt in die Straße investiert und löbliche optische Akzente gesetzt, doch die Verkehrsprobleme sind geblieben: Wo eigentlich Passanten bummeln sollten, fahren weiterhin Autos durch, manche sogar gegen die Fahrtrichtung, und wo der neu gestaltete Straßenraum den Blick auf Schaufenster freigeben sollte, stehen auch außerhalb der vorgeschriebenen Zeiten Lieferwagen und verdecken die Sicht. Einige Geschäftsleute haben sich andere Standorte gesucht oder ganz aufgegeben, doch das kommt für Andrea Menze nicht in Frage: „Immer wieder bekomme ich den Rat, auch wegzuziehen. Doch ich bin überzeugt, dass der Metzgerbach eine attraktive Adresse sein kann - vorausgesetzt, alle tragen zur Attraktivität bei.“

Deshalb ist die Künstlerin und Fitnesstrainerin auch geblieben, als sie den Friseursalon ihres verstorbenen Ehemannes schweren Herzens schließen musste. Andrea Menze hat ein neues Konzept für die Räume entwickelt und die Galerie Art und Wert aus der Taufe gehoben, die vieles in einem ist: ein Kunst-Kaufladen, wo regionale Künstler Bilder, Skulpturen und Objekte ausstellen und verkaufen können. Eine Produzentengalerie, wo Kunsthandwerk, Mode- und Schmuckdesign nicht nur gezeigt, sondern auch hergestellt werden - wer möchte, darf den Kreativen bei ihrer Arbeit über die Schulter schauen. Und um die Räume zu beleben, können sie auch für Veranstaltungen, Kurse und Events gemietet werden.

Ein zentraler Baustein im Konzept ist das Upcycling: „Wir schätzen den Einzelnen, sein Umfeld und Vorhandenes wert“, sagt Andrea Menze. „Unser Anliegen ist es, die Wiederverwertbarkeit zu erkennen, Dingen eine neue Bedeutung zu verleihen und dabei Natur und Mensch in den Mittelpunkt zu stellen. Das ist ein Gedanke, der gegenwärtig in aller Munde ist. Man nimmt etwas Altes, macht etwas ganz Neues daraus und wertet es dadurch auf. Das ist Nachhaltigkeit im besten Sinne. Und indem wir so arbeiten, geben wir auch anderen Anregungen, es selbst zu versuchen. So zieht diese Idee immer weitere Kreise.“

Andrea Menze und ihre Mitstreiter folgen diesem Gedanken auf unterschiedliche Weise. Jeder hat sein eigenes ästhetisches Konzept, unterschiedlichste Dinge werden nach dem Grundsatz „Aus alt mach’ neu“ gestaltet. Und hinter allem steht der Gedanke, dass die neue Kreation nicht nur schön, sondern auch nützlich sein soll. Das kann im Kleinen anfangen. „Warum soll man ausgediente Zeitungen in den Papiercontainer stecken, wenn man daraus Einkaufstüten machen kann?“, fragt die Hausherrin. „Gerade in einer Zeit, in der Plastiktüten aus dem Einzelhandel verschwinden sollen, ist das eine Alternative. Wenn man seinen Einkauf nach Hause getragen hat, kann man die Papiertüte immer noch umweltgerecht entsorgen.“

Upcycling liegt im Trend. Für Andrea Menze ist das freilich weit mehr als nur eine kurzlebige Modeerscheinung. Wer ihre künstlerische Arbeit verfolgt, wird feststellen, dass ihr diese Philosophie wohl vertraut ist. Unterschiedlichste Materialien kommen in ihren Bildern zu neuen Ehren. So beweist eine von ihr kreierte Serie kleinformatiger Bilder, dass aus alten Kaffee-Pads etwas Neues entstehen kann, wenn sie auf ihrem Weg in den Biomüll einen Umweg durchs Künstlerinnen-Atelier nehmen. Hunderte der kleinen Kunstwerke sind schon entstanden.

Besonders interessant ist der Upcycling-Gedanke, wenn auf diese Weise neue Textilien entstehen. Mit Bettina King hat eine junge Designerin die Galerie Art und Wert für sich entdeckt. Dort präsentiert sie nicht nur ihre Kreationen - immer wieder lässt sie sich auch bei der Arbeit an der Nähmaschine über die Schulter schauen. Mittlerweile hat Andrea Menze sogar ihr eigenes Label gegründet: King Comoscha. Bislang ist eine Schal- und Tuch-Kollektion erhältlich, doch in nächster Zeit werden auch T-Shirts und andere Kleidungsstücke hinzukommen.

Wie es sich für ein neues Modelabel gehört, hat King Comoscha eine originelle Entstehungsgeschichte: „Vor vier Jahren entdeckte ich im italienischen Como in einem Hinterhofatelier einen Schal aus lauter Stoffresten“, erzählt Andrea Menze. „Zurück in Esslingen konnte ich meine Freundin Bettina King, die als Modedesignerin vom Fach ist, zunächst mit meiner Begeisterung nicht anstecken, weil sie damals andere Schwerpunkte hatte.“ Doch irgendwann ging die Saat auf und Bettina King konnte sich für den Upcycling-Gedanken erwärmen. „Sie begann zu nähen, und als sie mir ihren Prototyp zeigte, war das für mich der König unter den Schals“, erinnert sich die Label-Gründerin. „Und vor lauter Freude, dass Bettina endlich tätig wurde und King heißt, wollte ich ihr mit dem Namen meinerseits eine Freude bereiten. So klingt unsere Hausmarke spannender als nur Comoscha.“

Der Name der Galerie ist Programm

Was mit einem Prototypen begann, erfreut sich mittlerweile wachsender Beliebtheit. Bettina King entwirft und näht immer neue Kreationen aus ausgedienten Textilien. Das Rezept ist ebenso simpel wie erfolgreich: Aus ausgedienten Massenprodukten wie Hosen, Jacken, Shirts und Schuhen werden Designer-Unikate. So werden die verschiedensten Stoffe ganz individuell zu Halstuch- und Schal-Unikaten komponiert - jedes für sich soll ein kleines Kunstwerk sein. Neben den unterschiedlichsten Stoffen finden auch Leder, Applikationen, Patches, Nieten, Ösen, Schmuck oder Perlen Verwendung. „Viele, die in unsere Galerie kommen, staunen, was man aus ausgedienten Materialien alles machen kann“, freut sich Andrea Menze. „Manche werden nachdenklich und überlegen sich beim nächsten Mal, wenn sie etwas wegwerfen, ob sich daraus etwas Sinnvolleres machen lässt. Dafür steht der Name unserer Galerie: Wenn man Gegenstände, ihre Geschichte, ihr Material und ihre Bestimmung neu interpretiert, verwandelt und zweckentfremdet, kann vieles wertvoll gestaltet und kunstvoll erlebt werden.“