Schon im Mittelalter wurden Hohlformen für bebildertes Gebäck verwendet. Quelle: Unbekannt

Von Petra Bail (Text und Fotos)

Michaela Schwarz lacht, wenn sie nach dem Geheimnis ihrer saftigen und bildschönen Springerle gefragt wird. Gemeinhin eilt dem traditionellen Bildgebäck zu Unrecht der Ruf voraus, furztrocken und eher als schmückender Zierrat geeignet zu sein. Doch bei der Bäckerin aus Leidenschaft sind die hellen Hingucker weich und geschmeidig: zu schön, um hart zu sein. Ihr Geheimnis ist die Zeit. Michaela Schwarz lässt den Teig mindestens 24 Stunden ruhen, damit sich der Kleber des Dinkelmehls, das sie verwendet, mit den restlichen Zutaten optimal verbinden kann. „Extrem wichtig“, sagt die Fachfrau, „keine frischen Eier, sonst geht der Teig nicht auf.“ Am besten eignen sich welche, die gut eine Woche alt sind. Nur so wird das Gebäck schön fluffig. Teig und Modeln werden eingepudert. Dafür füllt Michaela Schwarz Stärkemehl in einen Feinstrumpfsocken und bestäubt alles fein und gleichmäßig. Nach dem Ausmodeln gibt’s noch mal zwischen zwölf und 24 Stunden Auszeit, in der der Teig trocknen darf. Kein Triebmittel, kein Alkohol, keine Aromen, außer Gewürze wie Anis, Bourbon-Vanille, Spekulatius oder Kardamom finden bei Michaela Schwarz Verwendung.

Nimmt sie Anis, werden die Samen vorher auf dem Backblech leicht geröstet, damit die ätherischen Öle ihr volles Aroma entfalten. Im Teig macht sich das als die typische herb-süße Geschmacksnuance bemerkbar. Sind die Körner während des Backvorgangs auf dem Blech, können sie leicht zu stark geröstet und dann bitter werden. Schon die alten Ägypter wussten um die Wirkung der Heilpflanze, die als eines der ältesten Gewürze gilt. „Anis erfreut die Seele“, betonte auch Hildegard von Bingen. Das Gewürz soll stimmungsaufhellend, hustenlindernd und verdauungsfördernd sein. In dem Fall macht Naschen sogar gesund. Es ist eine Erklärung, weshalb Springerle vorwiegend in der völlereigefährdeten und kalten Weihnachtszeit gegessen werden.

Tricks und Techniken fürs Gelingen der schönsten Vertreter der Gattung Weihnachtsgebäck lernte die 43-Jährige einst in Backkursen von Gerhard Kaiser. Er war neben der Kunsthistorikerin Elke Knittel die Stuttgarter Springerle-Koryphäe schlechthin. Mit fünf Kilogramm Springerle pro Woche fing die Freizeitbäckerin 2006 an. Zehn Jahre später stellt sie pro Saison 1,8 Tonnen des köstlichen Gebäcks her. Tendenz steigend. Inzwischen hat die Technische Zeichnerin im Maschinenbau, die für die Hochsaison November/Dezember von ihrem Arbeitgeber freigestellt wird, eine kleine Großbäckerei im Untergeschoss ihres Wohnhauses in Lichtenstein eingerichtet. Als der Bäcker am Ort aufgab, kaufte sie die uralte Rührmaschine, die so schwer ist, dass sie mit einem Umzugsunternehmen transportiert werden musste. Sie kam in den Keller. Drumherum wurde die Backstube gebaut. Wenn Michaela Schwarz den großen Backofen anheizt, freuen sich die Nachbarn. Dann duftet es bis ans Ende der Straße. Acht Frauen helfen ihr während der Saison von Montag bis Freitag, aus 200 Kilogramm Mehl das Bildgebäck herzustellen, das Cookies und Brownies zum Trotz heute Kult ist.

Die Springerle-Backkultur hat ihren Ursprung im schwäbisch-alemannischen Raum. In der Schweiz heißen sie Anisbrötli. Sie sind auch in Teilen Österreichs, dem Elsass und Ungarn bekannt. Bereits im Mittelalter benutzten Menschen Hohlformen, um Kleingebäck zu bebildern. Allerdings waren sowohl die Zutaten als auch die Modeln so teuer, dass sie ausschließlich reichen Familien, dem Adel und kirchlichen Würdenträgern vorbehalten waren. Als im 17. Jahrhundert Zucker in Europa industriell hergestellt und dadurch erschwinglicher wurde, konnte sich eine breite Bevölkerungsschicht die Springerlesbäckerei leisten.

War die Motivwelt mit verzehrbaren Darstellungen aus der Bibel anfangs überwiegend religiös geprägt, kamen mit zunehmendem Bildungshunger weltliche Motive ins Spiel. Heraldische Darstellungen mit Wappen, aber auch Blumen, Girlanden, Szenen aus dem Alltag und Liebessymbole wurden in üppiger Pracht in Obstbaumholz geschnitzt. Modelstecher arbeiteten früher direkt im Haus ihrer Auftraggeber für Kost und Logis. Das Bildgebäck war beliebtes Patengeschenk zu allen Lebens- und Jahresfesten wie Namenstag, Weihnachten und Neujahr. Prächtig geschmückte Reiter, modisch gekleidete Damen, sogenannte „Zuckerdocken“, waren oft opulent bemalt. Höfische Konditoreien vergoldeten die süßen Backwaren sogar, und mit speziellen Holzmodeln wurden ganze Architekturlandschaften samt Tempel- und Gartenanlagen auf die Plätzlesteller gezaubert. Der Name Springerle leitet sich vermutlich von „aufspringen“, also vom Aufgehen des Teigs ab.

Rund 1000 Motive hat Linus Feller im Sortiment. Der Schweizer ist ein anerkannter Springerle-Experte. Er repliziert historische Motive in Gießharz, kreiert aber auch Backformen mit neuen Darstellungen. Michaela Schwarz vertreibt seit 13 Jahren seine Modeln online. „Bis dahin wusste ich nicht, was Springerle sind, obwohl ich aus Münsingen komme“, sagt sie und fügt erklärend hinzu: „Meine Mutter stammt aus Österreich.“ Inzwischen liefert sie in alle Herren Länder. Bestellungen erreichen sie aus Neuseeland und vor allem aus China, wo sich Traditionen aus Deutschland im Zuge des landlustigen Back-to-the-Roots-Trends einer wachsenden Beliebtheit erfreuen.

Ein netter Nebeneffekt sind Papierreliefkarten, die sich mit Kunststoffmodeln einfach herstellen lassen und sich als Geschenkidee bestens eignen. So wird’s gemacht: weißes Papier in Wasser einweichen, die Masse auf den Model drücken, das Wasser mit einem Schwammtuch aus den Gebilden pressen, trocknen lassen und auf eine Karte kleben. „Eine tolle Beschäftigung für Kinder und Senioren“, schwärmt Schwarz, die das gelegentlich ehrenamtlich in Kindergärten oder Altersheimen macht. „Für Rheumakranke und Arthritisgeplagte ideal.“

Die Zutaten für Springerle sind schlicht, die Herstellung kein Hexenwerk, wenn man Michaela Schwarz zuhört, die ihre Produkte auf ausgewählten Weihnachtsmärkten, in Fachgeschäften sowie online verkauft . Liebe, Sorgfalt und ein bisschen Fingerspitzengefühl - mehr braucht’s nicht für dieses exquisite Symbol der wohlschmeckenden Bescheidenheit der schwäbischen Küche.

www.springerle.net

www.springerle.com