Johanna Renz (Die Linke, im Bild rechts) mit Jan und Lisa vom Bündnis Esslingen aufs Rad. Foto: Moritz Osswald - Moritz Osswald

Gut ein Dutzend Lokalpolitiker stellen sich auf einer zweistündigen Radtour den Forderungen der mitfahrenden Bürger von Vereinen und Aktionsbündnissen.

EsslingenSilvia Böhler tritt in die Pedale – Sekunden später braust sie davon, vorbei an den vielen Autos, die überall die Straße verstopfen. Seit zwei Jahren fährt sie regelmäßig Rad. Einige Dinge stören sie in der Neckarstadt jedoch mächtig, deshalb ist sie heute zur Kandidaten-Radtour der Esslinger Gemeinderäte gekommen, organisiert vom Bündnis Esslingen aufs Rad. 14 Lokalpolitiker aus allen politischen Himmelsrichtungen schwangen sich aufs Fahrrad. Vom Bahnhofsplatz in der Innenstadt ging es vorbei am Hochschul-Campus zur Katharinenschule. Während anfangs die Sonne Bürgerinnen und Kandidaten zum Blinzeln zwang, änderte ein Wetterumschwung die Rad-Route schlagartig. Einem gewaltigen Donnergrollen folgte Platzregen. Statt wie geplant zur Oberen Beutau zu fahren, strampelten die knapp 40 Radbegeisterten kurzerhand zu einem Unterstand des Neckar-Forums.

„Autofahren muss unbequemer werden“, meint Petra Schulz, die in der AG Radverkehr des Verkehrsclubs Deutschland (VCD) sitzt. Esslingen sei als Stadt von Grund auf autofreundlich konzipiert. In der Konsequenz müsse entsprechend viel anders gemacht werden – Schulz fordert nicht weniger als eine „Verkehrswende“. Radfahrer sollten als Verkehrsteilnehmer gleichberechtigt mit Autofahrern und Fußgängern sein, so Schulz. Ein Beispiel für die Benachteiligung liege in der Flächenverteilung der Stadt, die klar aufzeige, dass Radfahrer nicht angemessen beachtet würden. Autofahrer werden bevorzugt; dafür nennt Petra Schulz den Festo-Knoten als markantes Beispiel. Bis auf die FDP, die sich mit dem Konzept einer autofreien Innenstadt nicht anfreunden will, sprachen sich alle anderen Vertreter der politischen Parteien und Bündnisse klar dafür aus. Das Argument: man müsse auch an die Mobilität älterer Menschen denken. Im Kleinen lässt sich damit heute schon anfangen. Beim Halt der Radtour an der Katharinenschule wurde über die Mobilität von Schulkindern diskutiert. Die Frage: Elterntaxi oder mit dem Radl zur Schule? Jörn Lingnau (CDU) positioniert sich klar: „Null Prozent Elterntaxis wäre am besten.“ Dafür bekommt er parteiübergreifend Applaus. Holland und Dänemark werden genannt. Vorbilder, zu denen man hinüberlinsen sollte. Über 50 Prozent Radverkehrsanteil in Kopenhagen – da kann Esslingen mit momentan sieben Prozent kaum mithalten. Laut dem „Statusbericht Radverkehr 2016/17“ der Stadt wolle man die Quote aber auf 15 Prozent bis zum Jahr 2025 bringen.

Thomas Rumpf hält das für ambitioniert. „Vom Reden passiert nix“, sagt er. Rumpf ist Vorsitzender des ADFC-Kreisverbands Esslingen. Natürlich begrüßt er das Vorhaben. Doch als einer, der die Situation für Radfahrer in der Stadt schon seit vielen Jahren im Blick hat, sieht er die Probleme und Stolpersteine der hiesigen Verkehrspolitik. Theorie und Praxis, Plan und Umsetzung – das seien stets „zwei Paar Stiefel“, so Rumpf. Der ADFC, der meist alle zwei Jahre den sogenannten Fahrradklima-Test veröffentlicht, rückt Esslingen in kein gutes Licht. 2014 bekam die Neckarstadt die Schulnote 4,2. Das war die Geburtsstunde des Bündnis Esslingen aufs Rad – man sah akuten Handlungsbedarf. Den sieht man allerdings immer noch, denn der letzte Report 2018 fiel ebenso verheerend aus. „Alternativen anbieten für das Verkehrschaos“, das wünscht sich Thomas Rumpf von der Politik.

Silvia Böhler hebt die Stimme. Man will ihr ein Mikro geben, doch sie braucht gar keins – ihr Anliegen bringt sie lautstark rüber. Sie sei „fassungslos“ über die Situation im oberen Teil der Zollbergstraße. Dort werde man als Radfahrer nicht ernstgenommen. Böhler kommt es vor, als sei ein Radweg vonseiten der Stadt gar nicht eingeplant worden. Hinzu kommen die Sperrungen und Baustellen – ein einziges Verkehrschaos, wie schon Thomas Rumpf vom ADFC meinte. Hitzige Debatten flammten zwischen verschiedenen Gemeinderäten auf, nicht jeder Bürger konnte immer folgen.

Deutlich wurde auch: Die Kandidatinnen und Kandidaten nutzten die Chance, sich zu profilieren. Bürgernah auf dem Rad, die Sorgen und Anliegen der Bewohner im Ohr, das kam gut an. Nach gut zwei Stunden Radtour nehmen die Teilnehmer zwei Erkenntnisse mit nach Hause. Erstens: Das Tempo, das in Esslingen verkehrspolitisch beim Drahtesel an den Tag gelegt wird, ist zu langsam. Zweitens: Visionen müssen Schritt für Schritt umgesetzt werden – sonst bleiben sie nur Visionen.