Der Eröffnungsabend auf dem Schlossplatz sorgt für großen Jubel. Foto: Reiner Pfisterer

„Peace“ steht in dicken Lettern auf der Ukraine-Fahne, die quer über die Tribüne der Jazz Open gespannt ist. Eine friedliche Stimmung hat den gesamten Schlossplatz erfasst. Der Rasen hinter den Zäunen wird zum fröhlichen Treff. Eindrücke vom Sommer 2022 in der Stuttgarter City.

Die Zeitenwende, von der seit der russischen Invasion in der Ukraine oft die Rede ist, hat uns in eine Zeit befördert, in der nichts mehr normal scheint. Wenigstens der Juli-Mond am Firmament verrichtet unverändert seinen Dienst – näher als in einer Entfernung von 357 418 Kilometern wird er uns in diesem Jahr nicht mehr kommen. In dieser wolkenfreien Nacht strahlt der Erdtrabant noch heller und ergreifender als sonst. Der gute, alte Bekannte erfreut am Dienstagabend tief über dem Horizont die Menschen auf dem Schlossplatz, wo auch sonst sehr viel zum Staunen und Genießen geboten wird.

Da die Welt seit Corona und Krieg eine andere ist, wird jede Art von Genuss intensiver wahrgenommen. Das Schöne wird noch schöner. Viele sind dankbarer als früher für alles, was wieder möglich ist. Im Ehrenhof des Neuen Schlosses ist der Sound von Al Di Meola, 67, des schnellsten Jazzgitarristen der Welt, kristallklar. Der Herr der Finger, begleitet vom Stuttgarter Kammerorchester, sorgt für euphorischen Jubel. Immer wieder reißt es das Publikum von den Sitzen.

Logengäste werden aufgefordert, nicht zu laut zu sein

Die Logen der Tribüne sind um einen Stock erhöht worden. Ganz nach oben ist der frühere Südwestbank-Chef Wolfgang Kuhn gezogen. Als Aufsichtsratsvorsitzender der Unternehmensbeteiligungsfirma E 3 Holding AG hat er 20 Gäste eingeladen. Kuhn ist restlos begeistert vom ersten Schlossplatzabend der Jazz Open 2022. Dieser Superklang sei nicht selbstverständlich, sagt er: „Bei Guns n’ Roses hatten wir vor einigen Tagen in München einen ganz miesen Sound.“ Nun wird jeder einzelne Ton für ihn zur Freude – und das in einer so großen Festivalarena.

In den neun neuen Logen der obersten Ebene – selbst ein Lift führt dorthin – , steht ein Schild auf der Balustrade (sie ist so hoch gebaut, dass niemand runterspringen kann) mit der grammatikalisch verbesserungsfähigen Aufforderung: „Bitte achten Sie während den Konzerten auf ihre Gesprächslautstärke. Besten Dank! Ihr Jazz Open Team.“

Zumindest bei Al Di Meola und dem ihm folgenden Gregory Porter schauen und hören alle so gebannt zu, dass kein Geräuschpegel von „denen da oben“ stört.

Der Orkan des Jubels im illuminierten Ehrenhof ist so gewaltig, dass man fast zu spüren meint, wie sich die Wellen der Begeisterung bis in entlegene Teile der Stadt ausbreiten – als ein Energieschub der guten Laune.

Ein friedliches Gefühl des Miteinanders macht sich breit

Die Jazz Open bestimmen den Rhythmus der Stadt – und das weit über die Zäune des Festivalgeländes hinweg. Draußen gibt es begehrte Plätze, bei denen man einen Blick auf die Leinwand der Bühne erhaschen kann.

Gut mithören kann man sowieso – selbst auf der Freitreppe des Kleinen Schlossplatzes. Immer mehr lassen sich nieder. Vergessen ist, dass dieser Ort für negative Schlagzeilen gesorgt hat. Jetzt ist die City so friedlich, wie sie sein sollte. „Peace“ ist im brummenden Stuttgart kein Fremdwort. Ein Gefühl des Miteinanders macht sich dort breit, wo schon viel Polizei aufgefahren ist. Liegt es an der Musik, die über allem schwebt? Am Supermond, wie er nur selten zu erleben ist? Am schönen Sommer? Und doch fragt man sich: Wie lange hält diese Idylle an? Was muss passieren, dass sich das ändert?

Stuttgart liebt den Beat der Straße

Der Rasen an den Absperrungen füllt sich, je später der Abend wird. Mit Picknickdecken und gefüllten Rucksäcken rücken Menschen an, die man Zaungäste nennt. Sie feiern mit. Aber auch etliche sitzen im Gras, die sich gar nicht für die Musik interessieren. Mit distanziertem Blick verfolgen sie das Geschehen – und werden bei den Jazz Open doch zum Teil des Ganzen. Man könnte sagen: Der Schlossplatz wird als Ort der bunten Vielfalt zum „Gesamtkunstwerk“.

Dazu gehören auch zwei Straßenmusiker, die weiter oben auf der Fußgängerzone eine Gruppe von Menschen um sich versammeln. Stuttgart pulsiert, liebt den Beat der Straße und lässt sich verzaubern von ganz unterschiedlichen Erlebnissen im Freien.

„Habt ihr eure Oberknallertage?“

Auf dem Karlsplatz bimmelt immer wieder die Glocke der Backfisch-Rutsche. Eine Schaustellerin des Hamburger Fischmarktes versichert, wie froh sie ist, nach der Corona-Pause wieder in Stuttgart zu sein. „Habt ihr eure Oberknallertage?“, fragt sie. Die Hanseatin hat bemerkt, dass es in der Stadt gerade an allen Ecken vibriert. Kaum ist der Wochenmarkt vor dem Rathaus abgebaut, wird für das Sommerfestival der Kulturen aufgebaut. Die City brummt im Party-Dreieck von Jazz Open, Fischmarkt sowie dem eintrittsfreien, daher zaungastlosen Bühnenspektakel auf dem Marktplatz. Beim größten Weltmusikfestival in Stuttgart wird sechs Tage lang getanzt, gefeiert und geschlemmt.

Kein anderes Konzert ist so begehrt wie das von Sting

Es geht munter weiter so. Am Samstag treten die Toten Hosen auf dem Cannstatter Wasen auf, wo 50 000 Fans erwartet werden. Bald folgen die Feiertage der Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender und allen anderen queeren Menschen, die in die Rückkehr der CSD-Parade am 30. Juli münden.

Davor geben sich die Superstars bei den Jazz Open die Klinke in die Hand. Kein anderes Konzert ist so begehrt wie das von Sting am Sonntag. Veranstalter Jürgen Schlensog könnte doppelt so viele Tickets dafür verkaufen. Bestimmt wird es dann auch voll hinter den Zäunen – im Sommer 2022 mit dem „Peace“-Zeichen auf dem Schlossplatz.