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Regisseur Zino Wey bringt den hoch aktuellen Stoff des Romans „Jugend ohne Gott“ als starkes Körpertheater auf die Bühne des Kammertheaters in Stuttgart.

StuttgartMenschen, die zu Maschinen mutieren, sind in Ödön von Horvaths „Jugend ohne Gott“ die Zukunft. Mit der Trillerpfeife gibt der Feldwebel den Takt vor. Die jungen Leute folgen ihm blind. Im militärischen Takt bewegt sich die neue Generation auf der Bühne. Längst ist der einzelne Mensch da nicht mehr gefragt. Zwischen riesigen Holzpfählen taumeln die Hoffnungsträger in den Tod. Ausgehöhlte Elektronik-Klangwelten untermalen die Szenerie: Mit starken Körperbildern und einem überzeugenden Raumkonzept bringt der Basler Regisseur Zino Wey Horvaths Roman im Kammertheater des Schauspiels Stuttgart auf die Bühne.

1937 erschien der Roman des österreichisch-ungarischen Dramatikers in Amsterdam. In Deutschland wurde der Text 1938 wegen „pazifistischer Tendenzen“ verboten. Griffig beschreibt er in seiner aufs Wesentliche reduzierten Sprache den Zeitgeist vor der Machtergreifung Hitlers im Jahr 1933. Klug zeigt das Ensemble, wie die Gleichschaltung junge Menschen auf den Kurs der Nationalsozialisten bringt.

Der assoziative, stark an visuellen Konzepten orientierte Regiestil Weys öffnet einen ungewöhnlichen Blick auf das Zeitporträt. So rückt der historische Stoff an heutige Zeiterfahrung heran. Ohne den Text plump zu aktualisieren, schwingen die Aufmärsche von Neonazis und Reichsbürgern in den Bildern mit. Mit aufgemalten Narben im Gesicht sehen die Figuren aus wie Untote. Sie sind Wiedergänger einer Zeit, die noch lange nicht aufgearbeitet ist. Horvath landete mit dem Roman kurz vor seinem Tod in der internationalen Literaturszene einen Erfolg – und das trotz des Verbots im Nazi-Deutschland. Das Buch wurde in acht Sprachen übersetzt. Nach seiner Emigration aus Österreich, das im März 1938 den „Anschluss“ an Deutschland vollzog, reiste er durch Europa, unter anderem nach Paris. Da wurde der Literat im Juni während eines Gewitters von einem Ast erschlagen.

Seit den 1920er-Jahren hatte er sich in Deutschland vor allem mit seinen Volksstücken einen Namen gemacht, die er revolutionierte. Die Sprache der Menschen von der Straße auf die Bühne zu bringen, war sein Verdienst. Und das in einer leichten Theaterform, die das Publikum der Massengesellschaft erreichen sollte.

In ihrer Bühnenfassung lenken Zino Wey und die Dramaturgin Gwendolyne Melchinger den Blick auf große politischen Diskurse seiner Zeit, die Horvath reflektiert. Dass junge Menschen zu Soldaten abgerichtet werden, möchte der Lehrer verhindern. Marco Massafra hebt sich durch seine Alltagskleidung von den uniformierten Schülern ab. Auf derart scharfe Kontraste setzt Veronika Schneider bei den Kostümen. Die Grundthese des Textes arbeitet Massafra klar heraus, wie ein Alptraum verfolgt ihn diese Erkenntnis: „Sie wollen Maschinen sein, Schrauben, Räder, Kolben, Riemen – doch noch lieber als Maschinen wären sie Munition: Bomben, Schrapnels, Granaten. Wie gerne würden sie krepieren auf irgendeinem Feld! Der Name auf einem Kriegerdenkmal ist der Traum ihrer Pubertät.“

Wie einsam er mit dieser Weitsicht ist, zeigt der Schauspieler stark. Sensibel tastet er sich in die Gedankenwelt des Pädagogen hinein, der am Geist seiner Zeit zerbricht. Dann beginnen die massiven Holzpflöcke und Stahlpfosten, die in Dany van Gervens Bühne von der Decke hängen, zu taumeln. Wie diese massiven Objekte in Bewegung geraten, ist faszinierend. Mit dieser Installation übersetzt der Bühnenbildner die Gefühle des Umbruchs, der Angst und der Bodenlosigkeit in seinem visuellen Konzept großartig. Eine Spur zu zaghaft ergänzt Ziggy Has Ardeur die Szenerie mit elektronischen Klangwelten. Nicht immer hält die Komposition mit dem druckvollen Körpertheater mit. Dennoch hat Wey ein Universum erschaffen, das Horvaths Literatur gerecht wird. In dieser Welt des Zerfalls suchen Jugendliche nach einem Halt, den sie nicht mehr finden. Ein gütiger Gott fehlt. Weil die Schauspieler beherzt ihre Grenzen ausloten, gibt es kaum Längen. Rassenfeindliche Phrasen, wie man sie im Radio hört, plappert der Schüler N nach. Die Jungen tragen Bezeichnungen, keine Namen. Die grob gezeichneten Typen, die Horvath erschaffen hat, blasen die Akteure auch nicht künstlich auf. Daniel Fleischmann zeigt mit starkem Körpertheater, wie Hass und Gewalt hinter hohlen Worten ihre Zähne fletschen.

Zum Rassismus erzogen

Wenn er in die Rolle des Vaters schlüpft, wird deutlich, dass seine Familie ihn zum Rassismus erzogen hat. Der Halbwüchsige wird von seinen Mitschülern erschlagen. Oder war es der Lehrer? Der Gerichtsprozess offenbart Ratlosigkeit. Großartig peitscht Robert Rozic als T seinen jungen Mann in die Spirale der Gewalt. Wie er seine Figur an Grenzen treibt, ist bemerkenswert. Überzeugend zeigt Julian Lehr die Gleichschaltung. Aus ihrer Opferrolle ibefreit sich Celina Rongen, die das Mädchen Eva verkörpert. Und Sebastian Röhrle ist mehr als der gedrillte Feldwebel. Klug distanziert er sich von seiner Rolle, zeigt die verletzliche Seite des Einpeitschers.

Stimmig porträtiert ist die Maschinenwelt, in der Wey die Akteure straucheln lässt. Sein Körpertheater lenkt den Blick auf Menschen, die sich rassistischen Propheten anschließen. So werden die grob gezeichneten Typen aus Horvaths Roman, den in jüngerer Zeit etliche Bühnen für sich entdecken, gegenwärtig. Dazu trägt das Ensemble bei, dessen Ausdruckskraft und Konsequenz berühren.

Nächste Vorstellungen: 29. und 30. November, 1., 3., 5., 12. und 13. Dezember.