Die One-Love-Kapitänsbinde ist zu einem brisanten Politikum geworden. Foto: dpa/Sebastian Gollnow

Hymnen-Streik, Armbinden-Debatte, Fan-Schelte: Wie politisch aufgeladen diese WM ist, wie sehr die Diskussionen Spieler und Trainer umtreibt, all das zeigt der Auftritt des Iran gegen England. Über ein Spiel, das nachwirkt.

Carlos Queiroz fuchtelte wie wild mit den Armen. Der Trainer der iranischen Fußball-Nationalmannschaft warf Handküsse ins Publikum. Erst einen, dann einen weiteren, dann ganz viele in immer schnellerer Abfolge. Dem Spielfeld drehte der 69-Jährige dabei den Rücken zu. Es lief die 80. Minute. Sein Team lag zu diesem Zeitpunkt im ersten Spiel der Gruppe B gegen überzeugende Engländer schon mit 1:5 zurück. Am Ende stand es 2:6.

Küsse hin, Küsse her – vollends zufrieden war der Portugiese mit der Performance der eigenen Anhänger nicht, wie er nach dem Spiel überraschend zu Protokoll gab. „Wenn die Fans uns nicht unterstützen, sollen sie zu Hause bleiben“, befand der Coach und schaute streng.

Eine mutige Geste der iranischen Kicker

Queiroz war aufgewühlt. Es war schließlich kein normales Match. Auch für den erfahrenen Fußball-Lehrer nicht, der schon so viel erlebt und in etlichen Ländern gearbeitet hat. Seine Spieler weigerten sich vor dem Anpfiff, bei der Nationalhymne mitzusingen. Eine für iranische Kicker bemerkenswerte wie mutige Geste, die sich gegen die Machthaber in der islamischen Republik richtete, die die seit Wochen andauernden Proteste im Land brutal niederschlagen und zu beenden versuchen. Das iranische Staatsfernsehen brach die Live-Übertragung aus Katar ab. Die WM-Spieler müssen nach der Rückkehr in ihr Heimatland Konsequenzen fürchten. Ob sportlich oder gar strafrechtlich, ist offen.

Die Umstände der Fußballbegegnung im Khalifa-International-Stadion in Al-Rayyan war für alle Beteiligten bewegend. Einige iranischen Fans weinten, als die Hymne gespielt wurde und die schweigenden Spieler auf den beiden Großleinwänden des Stadions zu sehen waren. Andere buhten, wieder andere jubelten.

Wer wissen wollte, wie politisch aufgeladen diese Weltmeisterschaft ist, war hier genau richtig. Denn auch die Debatte über die One-Love-Binde waberte durchs Stadion. Englands Verband war wie der DFB vor der Fifa eingeknickt. Harry Kane, der Kapitän der Three Lions, trug statt der One-Love-Version eine vom Fußballweltverband genehmigte Binde mit der Aufschrift „No Discrimination“ (Gegen Diskriminierung).

Der Fußball zwischen den Stühlen

Coach Gareth Southgate wollte dazu wenig sagen, bat um Verständnis. „Wir mussten uns auf den Fußball konzentrieren“, meinte der 52-Jährige. „Wir konnten da nicht involviert sein, vor allem die Spieler nicht. Das ist nicht ihre Aufgabe, das zu regeln.“ Die Menschen wüssten inzwischen, wofür das englische Team stehe. „Wir knien, weil wir glauben, damit etwas bewirken zu können.“

Southgate wollte am Ende eines aufwühlenden Tages die Fifa für das ganze Tohuwabohu nicht verurteilen. Im Gegenteil. Er sagte: „Die Diskussionen fanden zwischen den Nationen und der Fifa statt. Ich verstehe die Situation der Fifa. Es ist schwierig, irgendwo eine Linie zu ziehen.“

Andere ließen sich nicht abschrecken. Alex Scott etwa. Die ehemalige Fußballspielerin und heutige BBC-Expertin aus England stand mit der One-Love-Kapitänsbinde am Spielfeldrand. ZDF-Kommentatorin Claudia Neumann saß bei der Partie zwischen den USA und Wales im schwarzen T-Shirt mit einem Aufdruck in Regenbogenfarben sowie einer passenden Armbinde im Stadion.

Das Wort „Love“ muss entfernt werden

Verdruss gab es im Lager der Belgier, die an diesem Mittwoch (20 Uhr) in Gruppe F gegen Kanada ins Turnier einsteigen. Sie müssen das Wort „Love“, das auf der Innenseite ihrer WM-Trikots eingearbeitet ist, entfernen, wie der Präsident des belgischen Verbandes, Peter Bossaert, bestätigte. Auf Druck der Fifa. „Es ist traurig, aber wahr“, sagte Bossaert Medien aus seinem Land.

Irans Trainer Carlos Queiroz kam am Ende seiner Pressekonferenz dann doch noch auf die Proteste in der islamischen Republik zu sprechen – wenn auch nur indirekt. Denn beim Namen nannte er die Proteste nicht, die nach dem gewaltsamen Tod einer 22-jährigen Studentin begannen und schon viele Todesopfer gefordert haben. Also führte der 69-Jährige vielsagend aus: „Jeder weiß, dass es brisante Umstände im Umfeld meiner Spieler gibt. Es ist nicht die beste Umgebung bei so einem Turnier.“ Die Öffentlichkeit bat er, seine Spieler – Queiroz nannte sie „meine Kids“ – doch bitte in Ruhe Fußball spielen zu lassen. Darin war er sich mit seinem Kollegen Southgate einig. Dieser betonte: „Meine Jungs können für die ganzen Dinge nichts.“