Die Suche nach Schuldigen an Hunger und Elend führte schnell zu antisemitischen Klischees. Die Klimaveränderung war nicht nur Ursache realen Horrors, sondern auch der modernen Horrorliteratur.
Im April des Jahres 1815 brach der Vulkan Tambora auf der Insel Sumbawa im heutigen Indonesien aus. Eine gewaltige Explosion, die zwei Tage lang andauerte und noch auf der 2600 Kilometer entfernten Insel Sumatra zu hören war, erschütterte den Berg. Die unmittelbaren Folgen waren verheerend. Allein auf Sumbawa wurden fast alle der 10 000 Einwohner getötet, in der gesamten Region starben bis zu 90 000 Menschen. Der vorher 4300 Meter hohe Tambora misst nach dem Ausbruch nur noch 2900 Meter.
In Europa blieb dies unbeachtet. Doch bereits zum Jahresbeginn 1816 deutete sich die Fernwirkung des Vulkanausbruchs an, die in Teilen Nordamerikas und Europas katastrophale Folgen nach sich ziehen sollte. Neben der kolossalen Menge von etwa 150 Kubikkilometern Gestein, Asche und Staub wird bei der Explosion sehr viel Schwefeloxid mehr als 20 Kilometer hoch in die Stratosphäre geschleudert. Dort bilden sich sogenannte Aerosole, winzige Tröpfchen aus Schwefelsäure und Wasser, die einen Teil der Sonnenwärme schlucken und sich sehr schnell um die Erde verteilen. Unter diesem Schleier wird es merklich kühler.
Insbesondere in der Schweiz, Teilen Bayerns, im Elsass und in Württemberg nimmt das Wetter einen anormalen Verlauf. Schnee und außergewöhnlich viel Regen bestimmen die ersten Wochen des Jahres 1816, kurzzeitige grimmige Kälte wird schnell wieder von Wolkenbrüchen abgelöst. Zeitgenössische Berichte aus der Schweiz, aus Franken und Schwaben erzählen von Überschwemmungen, Erdrutschen, Gewittern und zerstörerischen Hagelschlägen. Es ist der Beginn des sogenannten Jahres ohne Sommer.
Das außergewöhnliche Wetter mit Dauerregen und niedrigen Temperaturen nimmt im Verlauf des Jahres seinen Fortgang, Schönwetterperioden bleiben aus. Vielerorts verfaulen die Saaten und das Heu, das Getreide gedeiht so schlecht, dass es oft nur noch als Viehfutter taugt. Chronisten notieren die schlechte Qualität der wenigen Kartoffeln, die aus dem Boden geholt werden. Zur Erntezeit in der zweiten Jahreshälfte sind in höheren Lagen wie auf der Schwäbischen Alb die Felder manchmal schneebedeckt, in Weinbaugebieten erfrieren die im Oktober teils noch grünen Trauben. Die verheerenden Folgen deuteten sich bereits sehr früh an.
Besonders hart traf es die Landbevölkerung. Wegen der Missernte werden bereits ab Mitte des Jahres die Wintervorräte verbraucht, Nutztiere sterben oder müssen wegen des Futtermangels geschlachtet werden. Doch auch in den Städten wird die Not spürbar und führt zu massiven Preissteigerungen. Wucher und Spekulationen mit Grundnahrungsmitteln nehmen zu, eine Hungerkrise enormen Ausmaßes zeichnet sich ab.
Zu Folgen, die bis in die jüngere Zeit reichten, führte die alsbald in der Bevölkerung gestellte Frage nach den Schuldigen des Elends. Die Behauptung kam auf, jüdische Händler seien die Hintermänner und Profiteure des illegalen Verschiebens von Getreide über die württembergischen Grenzen und des Wuchers mit Korn und Brot. Das alte Zerrbild vom „Kornjuden“ verfestigte sich. Der Stimmungswandel zeigte sich auch in der Stadt Esslingen, die ab dem Jahr 1806 elf jüdischen Kaufmannsfamilien das Niederlassungsrecht erteilte, um die Wirtschaft anzukurbeln. Ab 1816 verhinderten die eingesessenen Kaufleute und der Magistrat einen weiteren Zuzug. Andernorts entlud sich die antijüdische Stimmung in Krawallen, Plünderungen und Zerstörungen.
100 Jahre später erlebte der „Kornjude“ seine traurige Renaissance. 1917 veröffentlichte der im Jahr 1870 in Laichingen geborene Lehrer Christian August Schnerring in den Württembergischen Jahrbüchern für Statistik und Landeskunde „Handschriftliche Aufzeichnungen eines Älblers über die Teuerung und Hungersnot 1816/17“. Darin wurde die Schuld an der Hungerkatastrophe abermals jüdischen Getreidehändlern in die Schuhe geschoben. Speziell ein „Abraham“ genannter Händler aus Buttenhausen bei Münsingen habe sich als Wucherer hervorgetan und Getreide fuhrenweise fortgeschafft.
Das handschriftliche Original legte Schnerring nicht vor. Gleichwohl galt die als „Laichinger Hungerchronik“ bekannt gewordene Schrift aufgrund ihrer vielen stimmig erscheinenden Detailbeschreibungen als bedeutendes zeitgeschichtliches Dokument. Schnerring, später als Volksschullehrer in Kirchheim tätig, legte 1937 noch einmal nach: mit einer in ihren antisemitischen Passagen deutlich verstärkten, nun tatsächlich handschriftlichen Version der „Hungerchronik“.
Sie blieb jahrzehntelang ungeprüft, wurde in etlichen wissenschaftlichen Arbeiten noch bis 1985 als historischer Beleg herangezogen. Erst danach tauchten Zweifel an der Echtheit auf. Der Göttinger Historiker Hans Medick und der damalige Münsinger Stadtarchivar Günter Randecker wiesen schließlich nach, dass die „Hungerchronik“ eine Fälschung ist. Namentlich Randeckers Untersuchung zur historischen Rolle der Juden in Buttenhausen zeigte, dass die „Aufzeichnungen eines Älblers“ als antisemitische Hetze betrachtet werden müssen. So hatten Juden in Buttenhausen zwar dank eines Schutzbriefs aus dem Jahr 1787 Siedlungsrecht, durften jedoch kein Land besitzen, so dass sie sich vor allem im Wanderhandel mit Kurzwaren und Haushaltsgegenständen betätigten. Der Getreidehandel war ihnen ausdrücklich untersagt. Zu nennenswertem Wohlstand kamen die Buttenhausener Juden erst nach dem Jahr 1848. Die politische Instrumentalisierung der Hungerjahre durch antisemitische Schriften wie die „Hungerchronik“ muss auch als einer der Hintergründe betrachtet werden, die ab 1933 zur Vertreibung und Ermordung der jüdischen Gemeinde in Buttenhausen beigetragen haben.
Als sich die Katastrophe 1816 abzuzeichnen begann, war das Königreich Württemberg nicht imstande, auf die Situation angemessen zu reagieren. In der Folge der nach-napoleonischen politischen Neuordnung Mitteleuropas hatte Württemberg zwar erhebliche territoriale Zuwächse zu verzeichnen, doch durch die vorangegangenen Kriege war es verarmt, ökonomisch und politisch verharrte das Land in feudalistisch erstarrten Strukturen.
Nach seiner Regierungsübernahme im November 1816 nimmt sich König Wilhelm I. immerhin des Ernstes der prekären Lage an und fasst fortschrittliche Maßnahmen ins Auge. Angesichts der Krise und drohender Unruhen bringen Wilhelm I. und seine Frau Katharina dann in rascher Folge einige tiefgreifende Reformen auf den Weg. Noch im Dezember 1816 wird eine „Zentralleitung der Wohltätigkeitsvereine“ in Stuttgart gegründet, ab Januar 1817 werden in allen Oberämtern solche Vereine installiert, um mit der Verteilung von Lebensmitteln und Brennmaterial, später auch Saatgut, die schlimmste Not zu lindern. Überdies werden Zollschranken für die Ausfuhr von Getreide errichtet, und der Handel wird staatlich reglementiert.
Dennoch steigen die Lebensmittelpreise ins Astronomische. Zeitgenössische Aufzeichnungen sprechen von Preissteigerungen von bis zu 500 Prozent für Getreide, Brot oder Kartoffeln. Teilweise abenteuerlich anmutende Rezepte für Brotersatz aus gemahlenen Wurzeln und Rüben oder aus Mehl mit allerlei Streckmitteln wie Erbsen, Rosskastanien und Sägemehl kommen auf den Markt. Die Landbevölkerung versucht währenddessen, sich mit allem am Leben zu erhalten, was Wald und Feld noch hergeben. Von Suppen aus Gras, Kartoffeln und Klee wird berichtet, auch Hunde, Ratten und Mäuse werden verspeist.
Die Hungerkrise setzt sich im Folgejahr fort. Um das schiere Überleben zu sichern, verkaufen die Bauern teilweise sogar ihre wenigen kleinen Felder, und dies zu jedem Preis, der geboten wird. Mancher große Grundbesitz in Württemberg hat in der Zeit seinen Ursprung. Angesichts der Nahrungsmittelpreise führt der Verkauf der meisten Güter aber schnell zu völliger Verarmung. In der Stadt Laichingen auf der Alb beträgt der Anteil der Armen im Frühjahr 1817 rund 80 Prozent.
Hunger, Armut und Ausweglosigkeit führen zu einer Reaktion von historischen Dimensionen: Sie bewirken eine große Auswanderungswelle. Während die Menschen in den Einzugsgebieten des Neckars und des Rheins hauptsächlich nach Amerika emigrieren, fahren die Armen von der Alb und aus Oberschwaben, oft auch angelockt durch Werber, von Ulm aus auf der Donau in Richtung Russland. Rund 17 500 Württemberger wandern während der Krise 1816/17 aus, etwa 53 Prozent von ihnen nach Bessarabien, etliche auch weiter zum Kaukasus. Dort erhalten die Auswanderer weitgehende Freiheiten - verbunden mit der politischen Erwartung, dass die Siedler helfen, den russischen Territorialanspruch auf diese Gebiete zu festigen.
Die Wende zum Besseren zeichnet sich etwa zur Mitte des Jahres 1817 ab, als klar wird, dass eine gute Ernte zu erwarten ist. Als dann die ersten hoch beladenen Erntewagen in die Städte fahren, werden spontane Freudenfeste gefeiert. Im ländlichen Raum werden zur Erinnerung an die große Not in den Dörfern oder auch an Wegkreuzungen auf freiem Feld Hungerlinden gepflanzt.
Auch in der Literatur hinterlässt diese Zeit ihre Spuren. So sitzen die englischen Schriftsteller Lord George Byron, John William Polidori, Percy Shelley und seine künftige Ehefrau Mary Wollstonecraft Godwin im Sommer 1816 in einer Villa am Genfer See und versuchen, sich ihren gemeinsamen Urlaub nicht durch Kälte und Dauerregen verderben zu lassen. Inspiriert von Gespenstererzählungen und den Naturereignissen ringsum treten sie mit Schauergeschichten in einen literarischen Wettstreit. Byron verarbeitet das Geschehen mit dunkler Poesie, Shelley schreibt „The Vampyre“, auch Polidori legt eine Vampir-Erzählung vor. Mary Wollstonecraft entwickelt die Geschichte von Frankenstein und seinem unglücklichen Monster. Das Jahr ohne Sommer ist so nicht nur die Ursache realen Horrors, sondern auch die Geburtszeit der modernen Horrorliteratur.
Auch in der Bildenden Kunst zeitigten die Ereignisse ästhetische Folgen: Vulkanischer Feinstaub, der in der Atmosphäre treibt, erzeugte noch viele Jahre später außergewöhnlich prachtvolle Sonnenuntergänge in Rot-, Orange- und Grünschattierungen. Dies prägt die Landschaftsmalerei der Folgejahre und findet sich eindrücklich in den Werken etwa von Carl Spitzweg oder William Turner wieder.
In Württemberg bewirkten die Missernten und Hungersnöte einen epochalen sozialen und technologischen Wandel. Neben der Etablierung der Wohltätigkeitsvereine wird im Jahr 1817 eine Agrarreform auf den Weg gebracht. Die Leibeigenschaft und die Feudalabgaben werden abgeschafft, Beschäftigungsprogramme aufgelegt, Werkschulen für Kinder und Jugendliche eingerichtet.
1818 stiftet der württembergische König „zu Kannstatt“ ein landwirtschaftliches Fest mit Leistungsschau und Volksbelustigungen. Aus ihm ging das Cannstatter Volksfest hervor, dessen heutige Besucher wohl kaum noch den ursprünglichen Zusammenhang mit der Bekämpfung einer Hungerkatastrohe ahnen. Im Herbst desselben Jahres wird auch eine landwirtschaftliche Unterrichts-, Versuchs- und Musteranstalt, die spätere Universität Hohenheim, gegründet. Ebenfalls 1818 entsteht die „Württembergische Spar-Casse“ als „Spar-Casse zum Besten der ärmeren Volks-Classe“. Sie soll Notgroschen für die Bauern und Arbeiter parat halten. Der Karlsruher Forstmeister Karl Drais arbeitet ab 1817 unter dem Eindruck des großen Mangels an Zugtieren an der Entwicklung und am Bau von pferdelosen Fahrzeugen mit vier oder zwei Rädern. Auf diese „Draisinen“ gehen das Fahrrad wie auch, einige Jahrzehnte später, maschinenbetriebene Fahrzeuge zurück.
Der Ausbruch des Tambora und die Krise der Folgejahre sind daher zu gleich ein Beispiel für die Ambivalenz vieler weltgeschichtlicher Katastrophen. Bei allem unsäglichen Leid, das sie anrichten, wirken sie auch als zwingender Impuls für eine Wende zum Besseren, als Anstoß für überfällige Reformen und Fortschritte, welche Politik und Gesellschaft aus eigener Einsicht längst auf den Weg bringen müssen hätten. Für Württemberg und seine in der nach-napoleonischen Restaurationszeit heillos verkrusteten Strukturen kann der Vulkanausbruch somit auch als entscheidender Anschub für den Weg in die Moderne betrachtet werden.