Die Bahn muss diese Gleise nach Stuttgart weiter bedienen oder einen Stilllegungsantrag stellen, sagen Gutachter. Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Seit 19 Monaten existiert ein Papier, das die Forderungen der Stadt gegenüber der Deutschen Bahn AG stützt. Warum wird es nicht eingesetzt?

Die Landeshauptstadt droht wegen einer Änderung bei Stuttgart 21 für mehr als ein Jahrzehnt ihren zentralen Anschluss an die Gäubahn mit Zügen nach Singen, Zürich und Freudenstadt zu verlieren. Die Deutsche Bahn (DB) verweigert den Betrieb der innerstädtischen Strecke nach 2025 nicht nur zum Hauptbahnhof, sondern auch zu einem neuen Halt am Nordbahnhof. Alle Reisenden müssten in Stuttgart-Vaihingen in S- oder Stadtbahnen umsteigen.

Die Auseinandersetzung spitzt sich seit Monaten zu, am Ende könnte sie juristisch geklärt werden müssen. Pikant dabei: Der Stadt liegt zu dem Streitfall seit 19 Monaten ein eigens beauftragtes Gutachten der Berliner Kanzlei WMRC Rechtsanwälte vor. Die 62 Seiten hält das Büro von OB Frank Nopper (CDU) wie sein Vorgänger Fritz Kuhn (Grüne) unter Verschluss. Dabei würde das Geheimpapier die Position der Kommune im Streit mit der Bahn in allen wesentlichen Punkten stützen.

Nordhalt als Notbehelf

Den Nordhalt haben Stadt, Region und Land als Notbehelf gemeinsam angestrebt. Mit ihm würden die Gäubahnzüge nicht im Vorortbahnhof in Vaihingen enden und wenden müssen, sondern auf der Panoramastrecke Richtung City durchfahren. Dieser Weg ist auch bei Störungsfällen als Umleitung für die S-Bahn von erheblicher Bedeutung.

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Ursache der Misere ist eine gravierende Änderung bei Stuttgart 21, die noch vor der Sommerpause in einer Sondersitzung des Lenkungskreises beschlossen werden soll: Die Gäubahn würde nicht mehr wie geplant über die bestehenden S-Bahn-Gleise auf den Fildern zum Flughafen fahren, sondern in einem Tunnel ab Böblingen, der rund eine Milliarde Euro kostet. Das befürwortet die Deutsche Bahn AG. Die Röhren müsste der Bund bezahlen, die Bahn wäre bei S 21 in gewisser Weise entlastet. Bau- und Planungszeit für die Tunnel summieren sich auf etwa 13 Jahre. Der DB-Landesbevollmächtigte Thorsten Krenz erklärte vor wenigen Wochen lapidar, der Staatskonzern gebe die innerstädtischen Gleise gern ab. Zunächst will er Prellböcke auf der Panoramastrecke installieren, bald könnte Gras über diese Gleise wachsen.

DB zeigt die kalte Schulter

Nicht nur gegenüber dem Gemeinderat, offenbar auch gegenüber den Projektpartnern hält die Stadt ihre Erkenntnisse aus dem WMRC-Gutachten zurück. Die Berliner Kanzlei nennt gewichtige Argumente dafür, dass die DB AG als Betreiberin auf der Panoramastrecke weiter Züge fahren lassen muss. Ein Ersatzverkehr ersetzte nicht die Betriebspflicht für die Eisenbahnlangen der Panoramastrecke, heißt es im Gutachten. Wenn die Bahn – zum Bau eines neuen Anschlusses der S-Bahn Mitte 2025 in der Stadtmitte – die Gäubahngleise kappe und dann keine Ersatzverbindung zur Verfügung stehe, sei ein Stilllegungsverfahren erforderlich. Die Berliner Juristen sehen die Aufsichtsbehörde Eisenbahn-Bundesamt (Eba) in der Pflicht. Sie hätte sicherstellen müssen, „dass tatsächlich ein Ersatz für die Gäubahn zur Verfügung steht“. Dessen Fehlen könne sogar zum „Vollzugshindernis“ für die Kappung Mitte 2025 werden. Womöglich könne das Eba durch einen Beschluss den Rechtsmangel heilen, das sei aber nicht unstrittig.

Anrainerkommunen hoffen auf Hilfe

Die Anrainerkommunen entlang der Gäubahn laufen Sturm gegen die Bahn-Pläne und würden Schützenhilfe durch ein Gutachten und die Landeshauptstadt begrüßen.

Ein Gutachten von ganz anderer Seite unterstützte schon vor fünf Wochen die Forderungen der Kommunen nach Anschluss. Beauftragt war diese „Eisenbahnrechtliche Bewertung der Abbindung der heutigen Gäubahnstrecke zwischen Stuttgart-Hauptbahnhof und Stuttgart-Vaihingen“ von Umweltverbänden. Der Passauer Professor Urs Kramer kam zu dem Schluss, dass die Gäubahn ohne Stilllegungsentscheidung weiter bis zum Hauptbahnhof fahren müsse, die Kappung sei mit geringem Aufwand reversibel. Grundsätzlich deckt sich das mit den früheren WMRC-Erkenntnissen, allerdings war WMRC beauftragt, ausschließlich die Verbindung Vaihingen–Nordhalt zu betrachten.

Fragen unserer Zeitung zu den Gründen, warum das WMRC-Gutachten zurückgehalten wurde, beantwortete die Stadtverwaltung am Freitag nicht. Nur so viel: Es habe zur internen Meinungsbildung gedient. Man werde es Ende des Monats im Ausschuss zu Stuttgart 21 vorstellen. Oberirdische Gleise zum Hauptbahnhof, die die SPD am Donnerstag für eine Übergangszeit zu prüfen forderte, lehne die Verwaltung ab.

Scharfe Kritik aus Fraktionen

Die „anderthalbjährige Informationsblockade gegenüber dem Gemeinderat ist ein inakzeptabler politischer Vorgang“, kommentierte Christoph Ozasek von der Fraktion Puls den Sachverhalt. Das Linksbündnis aus SÖS und Die Linke erklärte, OB Frank Nopper habe vor 447 Tagen einen „Gäubahn-Gipfel“ angekündigt, mit den jetzigen Plänen werde „vorsätzlich ein Verkehrsinfarkt herbeigeführt“. Für die Grünen sagte Fraktionssprecher Andreas Winter: „Ein Abhängen der Gäubahn ist nicht zulässig.“