„Stämmle putza“: Ein Teil der frischen Gewächse wird von den Rebstöcken entfernt, um Pilzinfektionen zu vermeiden und die Qualität zu steigern.
Jochen Kenner blickt auf das zarte Gewächs, das er zwischen den Fingern hält. Wenn er sich umdreht, blickt er auf ganz Esslingen und darüber hinaus. Er hat zweifellos den Arbeitsplatz mit der schönsten Aussicht in der Stadt – allerdings ein schweißtreibendes Privileg. Der Esslinger Burgweinberg fordert seinen physischen Tribut. Als Mitglied der Weingärtnergenossenschaft Teamwerk bewirtschaftet Kenner die Hälfte der 1,6 Hektar großen Hangfläche. Aber der drahtige Wengerter nimmt’s sportlich: „Für eine Steillage ist das hier flach.“
Inzwischen hat Kenner den lindgrünen Trieb abgeknickt. Ein Teil dessen, was da sprießt und zur Traube reifen will, muss fallen. Aus zwei Gründen: einerseits der Qualität des künftigen Weins zuliebe, andererseits um Pilzinfektionen zu vermeiden. Letzteres nennt sich im ortsüblichen Fachjargon „Stämmle putza“. Entfernt werden alle Triebe unterhalb eines Drahts, der durch die Rebstöcke gezogen ist. So soll die Bodennähe des frischen „Gescheines“ – Wengertersprech für das erscheinende Traubenwachstum – unterbunden werden. Denn sie ist Einfallstor für den höchst schädlichen Mehltau, „der es trocken und heiß mag“, erklärt Kenner. Feucht und warm hingegen ruft den nicht minder schädlichen Peronospora-Pilz, auch als Falscher Mehltau bekannt, auf den Plan. Feucht, warm, heiß, trocken: „Wie es ist, ist es nichts“, frotzelt Kenner und rupft weiter.
Reserve für den finalen Schnitt
Hingegen werden an den am Draht hochgebundenen Stöcken einzelne Triebe zur Qualitätssteigerung gekappt. Was krumm, quer, verdoppelt oder nach unten wächst, entkommt nicht der jätenden Hand des Wengerters. Aufrechte Ausschusskandidaten dürfen vorerst stehen bleiben, als Reserve für den finalen Schnitt im Sommer, sagt Kenner.
Mit dem „G’schäft“ des Aussortierens und Beschneidens fangen die Wengerter jedes Jahr vor der Traubenblüte und nach den Eisheiligen an, wenn kein Frost mehr droht. Aber Hagel und Unwetter können noch in den Bestand fahren. Deshalb lässt man lieber ein paar überzählige Triebe stehen, damit im Hochsommer nicht zu wenige übrig bleiben. „Für alles weitere“, sagt Kenner, „sind wir selbst verantwortlich.“ Als da wäre: vor allem der Pflanzenschutz. Kenner und die meisten seiner Kollegen setzen Fungizide ein. Eine rein biologische Lösung, wie sie in Esslingen teilweise praktiziert wird, „wäre am Burghang schwierig“, erklärt der Wengerter. Der „wesentlich größere Aufwand“ würde sich wirtschaftlich kaum amortisieren.
Ohnehin fordert die Wirtschaftlichkeit einen Verkaufspreis von 18 Euro für die Flasche Cabernet Sauvignon der Marke „Dicker Turm“, die Kenner auf einem Teil der Fläche anbaut. Dafür muss Klasse drin sein – was die Masse der Trauben limitiert. Also die Entfernung etlicher Triebe voraussetzt, damit die übrigen „schön luftig stehen und wachsen können und genügend Sonne bekommen“, sagt Kenner.
Höhere Weinbau-Mathematik
Alles weitere ist höhere Weinbau-Mathematik. Zum einen sind Menge und Oechsle-Grad, also der für die Qualität relevante Fruchtzuckergehalt, umgekehrt proportional: je mehr Trauben pro Fläche, desto niedriger der Oechsle. Zum anderen legt der Teamwerk-Vorstand fest, welche Menge Wein auf welcher Fläche produziert wird. „Teamwerk“, sagt Kenner, „muss ihn dann ja auch verkaufen.“ Der Genossenschaft obliegt das Marktkalkül, ausgehend vom „Menge-Güte-Verhältnis“. Sprich: Wie edel müssen die Tropfen sein, damit die Weinzähne einen edlen Preis bezahlen? Und mit wie viel Absatz ist zu rechnen?
Für Kenners Burg-Anbaufläche kommt bei alldem ein Quantum heraus, das nur ein Drittel des gesetzlich Zulässigen beträgt. „In Württemberg“, rügt der Weinbauer, „wird immer noch zu sehr auf Menge gesetzt. Aber das ändert sich.“ Und zwar mit der Hand am Arm, wenn man an die gerade stattfindenden Weinbergarbeiten denkt: Von Hand werden die überzähligen Triebe ausgebrochen. „Das kann keine Maschine“, sagt Kenner. Drei Tage Arbeitszeit braucht er dafür am Burgweinberg – ohne Hilfskräfte. „Aber man macht das nicht am Stück, weil immer wieder etwas anderes dazwischenkommt.“
Etwas anderes geht voraus, nämlich kniffliges Kopfrechnen: Wenn der Zielertrag pro Ar 60 Kilo Trauben sind und pro Ar 40 Stöcke stehen, wie viele Triebe pro Stock dürfen dann stehen bleiben? Wäre durchaus schulbuchtauglich. Die Lösung: acht Triebe. Manchmal auch nur sechs. Aber dazu braucht es keine Rechenaufgabe, sondern den geschulten Blick des Kenners.
Bisweilen ist der Wengerter Müllmann
Schweift er vom Rebstock nicht ins Tal, sondern nach oben, wird aus der schönsten die hässlichste Aussicht: Sie trifft den Abfall, den die Drecksäcke unter den Zeitgenossen vom Seilergang bei der Hochwacht herabwerfen. Kenner räumt den Müll regelmäßig weg.
Seine Wengerter-Leidenschaft tilgt den Ärger. Neben Cabernet Sauvignon baut er auf der Burg Riesling und Grauburgunder an. Gelegentlich trinkt er bei der Arbeit einen Schluck. Und blickt ins Tal.