Skulptur „Blaumoment“ von Nikolaus Koliusis Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Sechs Meter hohe Stoffbahnen spannen sich vor dem Blauen Haus für die Familien krebskranker Kinder in Stuttgart. Was geschieht hier?

Stuttgart - Die Gerüststangen stehen fest im Betonfundament, strecken sich acht Meter in die Höhe und breiten dort ihre stählernen Arme weit aus, um den Schatz zu bergen. Nicht durch Verstecken, sondern durch stolzes Auftreten. In mehreren Schichten streckt sich über sechs Meter blaues Gewebe. Vier Seiten, die vier transparente Wände eines Raumes bilden, besser: markieren. Eine Figuration, eine Konstellation aus Stahl und Gewebe. Formuliert als „Ortsangabe“.

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Der Stuttgarter Objektkünstler Nikolaus Koliusis hat diese „Ortsangabe“ entwickelt. Der Winnender Gerüstbauspezialist Rienth sorgt für die handwerkliche Umsetzung des jüngsten Koliusis-Projekts. Sein Name: „Blaumoment“. Die Adresse: Herdweg 15. Dort steht das Blaue Haus, zentrales Projekt des Förderkreises krebskranker Kinder Stuttgart. 2009 hat der Verein den Gründerzeitbau erworben, saniert und 2012 als Ruhezone für Familien krebskranker Kinder eröffnet. In bewusster Nähe zum Olgahospital und doch als Insel inmitten von Verkehrsachsen.

Alles beginnt mit einem Diebstahl

Den Charakter der Insel prägt Nikolaus Koliusis von Beginn an mit. Der Rechtsanwalt Stefan Nägele, Vorstand des Förderkreises krebskranke Kinder, lädt ihn ein. Zum Mitdenken. Koliusis entwickelt ein weithin sichtbares plastisches Zeichen. Das Blau seiner mehrteiligen Skulptur „Aus gutem Grund“ gibt dem Haus seinen Namen, doch die Freude währt nicht lange. Die Skulptur wird zerstört, Fragmente tauchen später wieder auf. Koliusis entwickelt daraus Neues: die „Grundlinie“, eine sechs Meter breite Horizontale, Schutzsignal wie Markierung für das Blaue Haus.

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Nun werden an zwei Stellen – zur Stadtmitte hin wie in Richtung Halbhöhe – wieder Fundamente gegossen, ziehen die Gerüstbauer die Stangen für „Blaumoment“ hoch. Was daraus entsteht? „Ich möchte“, sagt Nikolaus Koliusis, „durch meine Installationen den öffentlichen Raum auf besondere Art aktivieren, oder nennen wir es ,ihn aufladen‘. Nicht mit einem lauten Ruf, sondern mit einer feinen, durchaus erst zu entdeckenden Behauptung.“

Kunst passiert nicht alleine

Tatsächlich bewirkt Koliusis einmal mehr ein Erfassen auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Da sind zwei blaue Türme im Garten eines selbstbewussten Gebäudes, mit offenen Seiten jedoch und mehr noch jeder für sich im Vorübergehen, im Vorüberfahren, sein eigener Verwandlungskünstler bis hin zu Windmühlenflügeln. „Kunst, und das ist meine Überzeugung“, sagt Nikolaus Koliusis, „passiert nicht alleine. Das Zustandekommen ist immer eine Art von Ausloten.“

Umgeben von Kompetenz

Entsprechend wichtig sind für den Künstler die Partner – Menschen, die ihn einladen, etwas zu entwickeln. Menschen, die ihm helfen, etwas zu entwickeln. „Ich bin umgeben von Kompetenz, ich merke, wie diese mit- und vordenken“, sagt Koliusis: „Der sogenannte ,Flow‘ passiert auf Augenhöhe, weil jede Kleinigkeit Symbolkraft hat.“ Stefan Nägele weiß um die Ideen des Künstlers, um die Sehnsucht nach der optimalen Lösung. Und Koliusis’ Lob – „Stefan Nägele und der Förderkreis haben den kommunikativen und interaktiven Moment der Kunst sofort als etwas Besonderes erkannt“ – gilt bis heute.

Den Ort auszeichnen

Man wird nun das Blaue Haus deutlich mehr und deutlich anders wahrnehmen. Von der Liederhalle und der Universität her ebenso wie von der Gegenseite, den Herdweg auf die Stadtmitte zu. „Ich mache den Ort, ich zeichne den Ort aus, gebe ihm etwas, lade ihn auf“, sagt Nikolaus Koliusis. Und: „Der öffentliche Raum ist mein Museum.“

Die Stadt als Atelier

Eine andere Formulierung wäre vielleicht treffender: Der öffentliche Raum, die Stadt, ist Koliusis’ Atelier, und das Atelier ist die Stadt. Als solches lebt es von Einblicken und Durchblicken – wie sie nun auch die blauen Stoffbahnen von „Blaumoment“ ermöglichen und durchaus auch provozieren. „Fragile Momente“, sagt Nikolaus Koliusis, „sind mir in unserem Miteinander extrem wichtig, und das Blaue im Besonderen verbinde ich mit einer Art von Öffnung, einem ,sich erweiternden Schauen‘.“

Ein Jahr zu sehen

Offiziell fertiggestellt wurde „Blaumoment“ am Freitag, 11. Februar – vier Tage vor dem alljährlichen internationalen Kinderkrebstag am 15. Februar. Ein Jahr wird die Doppelskulptur, die sich mit dem fortgeschriebenen „Aus gutem Grund“ wie selbstverständlich verbindet und dessen sechs Meter Breite als Höhenmaß der Stoffbahnen nimmt, zu sehen sein. Mit bewusst rohen Trägern und mit Stoffbahnen, die selbst körperhafte Qualität annehmen.

Koliusis-Memory

Für sich selbst hat Nikolaus Koliusis noch ein weiteres Projekt, das sich mit Leid und freudvoller Erinnerung verbindet, fortgeschrieben. Ausgehend von Koliusis’ „Raum der Stille“ im Olgahospital hat der Spieleverlag Ravensburger ein Memory entwickelt, das mit Koliusis’ Kunst wie mit davon ausgelösten Gefühlen spielt. Hundertmal ist das Puzzle zu haben – der Erlös geht „zu 100 Prozent“ an den Förderkreis krebskranker Kinder Stuttgart und die Arbeit im Blauen Haus.

Koliusis und das Blaue Haus

Der Künstler
 Nikolaus Koliusis, 1953 in Salzburg geboren, ist gelernter Fotograf. Seit den 1970er Jahren entstehen architekturbezogene Projekte wie 2019 in Berlin „T4 – Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen ‚Euthanasie‘-Morde“. In Stuttgart hat Koliusis unter anderem „50 km/h“ (Tunnel unter dem Kleinen Schlossplatz) und den „Raum der Stille“ im Olgahospital realisiert.

Das Blaue Haus
 Kernstück der Arbeit des 1982 gegründeten Förderkreises krebskranke Kinder Stuttgart ist das 2012 eröffnete Blaue Haus. 17 Apartments stehen in dem 2009 erworbenen Gebäude im Herdweg 15 für betroffene Eltern und Geschwister während der Zeit der Behandlung in direkter Nachbarschaft zum Kinderkrankenhaus Olgahospital zur Verfügung.