Kein Platz mehr im IKEA-Ehebett: Probenfoto mit (von links) Michael Nagl als Figaro, Sarah-Jane Brandon als Gräfin und Esther Dierkes als Susanna Foto: Martin Sigmund - Martin Sigmund

Figaro und Susanna wollen heiraten, aber ihr Chef, der Graf, der keinen Bock mehr hat auf die eigene Frau, stellt der jungen Braut nach: so die Story von Mozarts „Hochzeit des Figaro“. Die Regisseurin Christiane Pohle interessiert sich in ihrer Inszenierung an der Stuttgarter Oper noch für ein viel grundsätzlicheres Thema: Das Partnerglück ist von vornherein eingezwängt in gesellschaftliche Normen und Konventionen.

StuttgartDiese Oper beginnt tatsächlich nach Maß. Das erste gesungene Wort ist eine Zahl, eine Längenangabe. Die folgenden Worte ebenso. Figaro ist mit dem Zollstock zugange und misst schon mal ab, ob das Ehebett reinpasst in jenes Gemach, wo künftig die traute Zweisamkeit mit seiner Braut Susanne herrschen möge. Als ob sich das eheliche Glück in Maßeinheiten berechnen ließe. „Diese Möblierung der Beziehung steht wie eine Überschrift über der Ehe. Sie ist ein wesentlicher Teil der Beschreibung des partnerschaftlichen Glücks und damit dessen Normierung“, sagt die Regisseurin Christiane Pohle, die Mozarts „Le nozze di Figaro“ („Figaros Hochzeit“) auf das Libretto Lorenzo da Pontes an der Stuttgarter Oper inszeniert. Am Sonntag ist Premiere.

Was in der 1786 uraufgeführten Opera buffa den sozialen Verhältnissen geschuldet ist – Susanna und Figaro gehören zum Dienstpersonal und können sich keine eigene Ausstattung leisten –, geht in der Gegenwart in eine „Serialität“ über, sagt Pohle. Hochzeitsvorbereitungen finden in Möbelhäusern statt, auf Heiratsmessen und an anderen Orten der „vorproduzierten Entwürfe, die zwangsläufig die Frage aufwerfen: Wo bleibt das Besondere und Individuelle unserer Beziehung?“ An der Normierung, folgert die Regisseurin, habe sich also bis heute nichts geändert. Zwischen Tüll und Tränen und IKEA bahnt sich der Ehestand als Standard an. Weil das so ist, machen Pohle und die Bühnenbildnerin Natascha von Steiger ein heutiges Möbelhaus mit Hochzeitsmesse zum Schauplatz des Operngeschehens.

Rechnung mit Rechenfehler

Nun kann das glückliche Paar, das „musikalisch am Anfang gar nicht harmoniert“ (Pohle), freilich messen und rechnen, so viel es will – es hat sich doch verrechnet. Denn der schürzenjagende Graf, der Arbeitgeber der beiden, stellt Susanna nach und pocht auf sein Recht der ersten Nacht. „Er bildet sich einen Anspruch auf den Körper der Frau ein“, sagt Pohle, „und verhält sich damit ebenfalls dem Stereotyp entsprechend.“ Doch „die Störung der Beziehung zwischen Figaro und Susanna kommt nicht nur von außen. Dass in ihrem Glück der Wurm drin ist, liegt nicht nur an den herrschenden Machtverhältnissen, sondern an ihrer eigenen, mit gesellschaftlichen Schablonen verknüpften Verabredung.“ Kurzum: Es geht um verinnerlichte Fremd- statt emanzipierte Selbstbestimmung. Und daraus folgt auch ein Verständigungsproblem zwischen den Geschlechtern. Immerhin stößt die kluge Susanne ihrem ahnungslosen und sonst doch so gewieften Bräutigam Bescheid, was der Graf im Schild führt – dieser Graf, mit dem Figaro eine kumpelhafte Vorgeschichte verbindet. Hat der Hansdampf doch einst dem jungen Grafen mit vielen Tricks und gegen ebensoviele Widerstände die damals begehrte und jetzt verschmähte Rosina ins Ehebett gelotst. Tempi passati: Nicht mehr die Liebe, nur noch die Eifersucht vermag die Flammen der Leidenschaft für die Gattin zu wecken, die als abservierte Ehefrau von der bitteren Weisheit des Unglücks zehrt.

Sind also die Männer – gockelhafte Rivalen, miese Intriganten, hintergangene Freunde – die Dummen in den vier Akten voller Irrungen und Wirrungen, Kabale und Triebe? „Nein, das wäre zu eindimensional“, findet Pohle. Allerdings seien die Frauen „musikalisch differenzierter erzählt, tiefer ausgeleuchtet, letztlich klüger – und sie haben mehr Zukunftspotenzial.“ Den finalen Verwechslungs- und Entlarvungscoup stemmen sie allein, ohne Wissen Figaros, der nichts kapiert, das Vertrauen in Susanna verliert und im schlimmsten Chauvi-Ton gleich alle Frauen mitverdammt. Eine Geschlechterfront also – und aus Pohles Sicht mehr als das.

Revolutionärer als die Revolution

Die alte Behauptung, Mozart und da Ponte hätten das dem Libretto zugrunde liegende, als revolutionär berüchtigte Theaterstück von Beaumarchais entschärft, wendet die Regisseurin ins Gegenteil: Sie haben es hyperrevolutionär verschärft. „Mozart und da Ponte stellen bereits vor der französischen Revolution Warnschilder auf: Der Aufbruch ins bürgerliche Zeitalter mit seinem eigenen Moralkodex bringt keine Freiheit, erst recht keine Befreiung der Frau“, sagt Pohle und versteht das Stück im besten Gender-Sprech als Attacke gegen die „heteronormative Gesellschaft“. Ein bisschen viel verlangt von einer Oper aus dem 18. Jahrhundert? Von wegen. Geschlechtertausch und Identitätswechsel muss man in dieses Stück nicht erst hineinprojizieren, sie werden auch so lustvoll zelebriert, etwa mit der Verkleidung des pubertierenden Cherubino als Mädchen; oder eben im Finale, wo „die Figuren in der Anarchie der Verwechslung und der Ablösung von verordneten Identitäten freier sind als ganz am Ende, bei der Rückkehr zum Ursprungszustand“, erklärt Pohle. Dieses im Hauruck-Verfahren herbeiforcierte scheinbare Happy-End mit seinem rasanten Allegro-Abgesang wirke geradezu „panisch“. Glück hingegen gebe es bei Mozart nicht im Mess- und Identifizierbaren, nur im Ambivalenten, im Uneindeutigen.

Und so seien es ernste Dinge mit durchaus tragischem Unterton, die Mozart als Komödie behandle, sagt die vom Schauspiel herkommende, inzwischen auch im Musiktheater erfahrene Regisseurin (am Stuttgarter Staatsschauspiel hat sie 2014 eine Dramatisierung von Thomas Manns „Zauberberg“ und ein Projekt zu dem Künstler Dieter Roth inszeniert). Die Herausforderung sei es, Mozarts ständigen Wechsel der musikalischen Genres von der Komik über psychologische Feinheiten bis zu kollektiven Momenten in szenische Darstellung zu übersetzen: „Das muss mal grob sein, dann abgründig, das reicht von Slapstick bis zu tiefer Verunsicherung“ – ein Wandlungskunststück. Den Stuttgarter Sängerinnen und Sängern bescheinigt Christiane Pohle „große Spielfreude: Die können nicht nur toll singen, sondern sind auch hervorragende Darsteller.“ Und wie die Stuttgarter Oper mit Stolz vermeldet: Fast alle Partien in der von Roland Kluttig dirigierten Produktion können aus dem hauseigenen Ensemble besetzt werden.

Die Premiere beginnt an diesem Sonntag, 1. Dezember, um 18 Uhr im Stuttgarter Opernhaus. Weitere Vorstellung am 4., 6., 19. und 21. Dezember, am 7., 13., 17. und 28. März sowie am 14. April.