Bei einem Besuch der Vorleserin ist es für die Kinder oft wichtig, einen Platz nah am Buch zu ergattern. Foto: Archivfoto: Roberto Bulgrin - Archivfoto: Roberto Bulgrin

Fast 30 Prozent der Kindergartenkinder kriegen nicht vorgelesen. Darum gibt es in Esslingen Ehrenamtliche, die in die Kindergärten gehen und den Kleinen vorlesen.

EsslingenKaum wird das Buch aufgeschlagen, drängen sich die Zwei- bis Sechsjährigen um die Vorleserin. Es wird darum gerungen, wer der Vorleserin – und damit dem Buch mit seinen bunten Bildern – am nächsten sein darf. So oder so ähnlich sehen die meisten Einsätze der Leseriesen in den Esslinger Kindergärten aus. Seit mittlerweile knapp zehn Jahren gehen die Freiwilligen in Kindertageseinrichtungen und lesen Kinder- und Bilderbücher vor.

In Gang gekommen war das Projekt erst nur zaghaft. „Es gab damals schon das Vorleseprojekt, wo in Grundschulen vorgelesen wurde, und da haben sich immer wieder auch Kindergärten gemeldet“, erinnert sich Barbara Heckel. Zusammen mit Margret Knörzer ist sie für die Leseriesen verantwortlich. Weil Heckel davon ausging, „dass Kindergartenkinder ja zu Hause sowieso vorgelesen bekommen“, hielt sie sich zunächst zurück. Wie falsch ihre Annahme war, entdeckte sie erst etwas später. „Viele Kinder haben heute gar keinen Bezug mehr zu Büchern, weil sie es von ihren Eltern gar nicht mehr vorgelebt bekommen“, sagt Heckel. „Inzwischen kriegen fast 30 Prozent der Kinder nicht mehr vorgelesen.“ So habe sie sich gemeinsam mit Margret Knörzer und mit einer Mutter, die damals am Kindergarten ihres Nachwuchses ein Leseprojekt etablieren wollte, entschlossen, „es einfach mal zu versuchen“. Mit Ständen auf dem Wochenmarkt warben sie für ihr Projekt. Schnell fanden sich 15 interessierte Kindertagesstätten im Stadtgebiet und neun Vorleserinnen. „Es sind überwiegend Vorleserinnen“, sagt Heckel. Das habe sich einfach so ergeben. „Für die Kinder ist es auch ganz toll, wenn sie mal einen Mann haben, der vorliest. Die Väter machen das unserer Erfahrung nach nicht so oft.“ Und weil nicht jeder von Natur aus ein geübter Vorleser ist, lernen die Ehrenamtlichen in regelmäßig stattfindenden Workshops, wie sie spannend vorlesen. „Da geht es dann zum Beispiel darum, wie man Pausen macht, wie man wie ein Bär oder wie eine Elfe spricht“, sagt Heckel. Mitbringen müssen Interessenten einige Eigenschaften: „Ganz wichtig ist natürlich die Liebe zu Büchern und zu den Kindern“, sagt Heckel. Darüber hinaus seien Geduld und Stehvermögen gefragt. „Man muss auch hin und wieder von vorne anfangen und die Kinder daran erinnern, zuzuhören.“ Inzwischen hat sich die Zahl der teilnehmenden Kindergärten, aber auch die der Ehrenamtlichen vergrößert. 38 Kindergärten werden aktuell von 46 Vorleserinnen und Vorlesern besucht. In der Regel kommen die Vorleser einmal in der Woche für eine Stunde. „Es kann aber auch vorkommen, dass es so viele interessierte Kinder gibt, dass ein Vorleser mehreren Gruppen nacheinander vorliest“, sagt Heckel. „Das wird mit den Erzieherinnen vereinbart.“ Für die Leseriesen, die in ihren knapp zehn Jahren schon vier Mal von der Esslinger Bürgerstiftung und auch schon mit Preisen bedacht wurden, beginnt jetzt eine schwierige Zeit. „Wir sind aktuell mittellos“, sagt Heckel. „Wir müssen Sponsoren finden oder Fundraising betreiben.“ Besonders die von der Stadt organisierten Fortbildungen für Ehrenamtliche, bei denen auch Vorleser der Leseriesen referierten, schlügen dabei ins Gewicht. „Bisher konnten wir das noch aus unseren Preisgeldern finanzieren.“ Das gehe nun nicht mehr.

Das Vorlesen, sagt Barbara Heckel, hat für die Kinder gleich mehrere Vorteile. „Zum einen erweitert sich ihr Horizont, wenn ihnen vorgelesen wird. Sie erfahren Dinge – auch Traum- und Märchenhaftes – die ihnen im echten Leben nicht widerfahren“, erklärt Heckel. Durch das Vorlesen hören die Kinder auch eine andere Art von Sprache als die Umgangssprache. „Das erweitert den Wortschatz und die Kinder lernen auch Wörter aus anderen Bereichen des Lebens kennen.“ Auch die emotionale Welt der Kinder vergrößere sich, zudem werde durch den kommunikativen Akt des Vorlesens und Zuhörens auch die Wahrnehmung der Kinder untereinander geschult. „Sie merken zum Beispiel, wenn sie einer bei einer Stelle erschreckt oder reden über das Gehörte.“

Idealerweise wird einem neuen Vorleser ein Kindergarten ganz in der Nähe des eigenen Wohnortes zugeteilt. Dort stellt er sich dann vor und bespricht mit den Zuständigen, was es zu beachten gibt. „Es gibt durchaus Kindergärten, die bestimmte Bücher oder Themen – zum Beispiel Geschichten über Feen und Zauberei oder auch schwierige Themen – ausschließen.“ Solche Besonderheiten, aber auch „Spielregeln“ – also, was die Kinder dürfen und was nicht – werden im Vorfeld besprochen.

Viele Freiwillige kennen das Vorlesen noch von ihren eigenen Kindern oder Enkeln, aber Heckel hat einen erfreulichen Trend beobachtet. Für Berufstätige sei es in der Regel schwierig, das Vorlesen – das vor- oder nachmittags stattfinden kann – mit dem Beruf zu vereinbaren. „Wir hatten aber auch schon einige jüngere Vorleser“, sagt sie. Sogar Studenten seien dabei gewesen. Die kämen zwar meist nur für eine kurze Zeit, seien aber bei den Kindern sehr beliebt. „Sie bekommen sogar Punkte für ihr Studium, wenn sie im Kindergarten vorlesen und haben immer signalisiert, dass es ihnen Spaß gemacht hat. Dass es den Kindern Spaß macht, ist klar.“