Medikamentenherstellung ist ein Paradebeispiel für die Balance aus Gewinninteresse und gesellschaftlicher Verantwortung. Foto: dpa/Hans-Jürgen Wiedl

Nur Unternehmen, die einen moralischen Kompass besitzen, haben langfristig Erfolg und können Krisen gut bewältigen. Davon ist der Wirtschaftsethiker Klaus Leisinger überzeugt. Die Coronakrise zeige die Komplexität ethischen Handelns.

Stuttgart - In der Coronakrise ist eine Branche in den Blick geraten, die lange ein Imageproblem hatte: Auf einmal wurden Pharma- und Impfstoffhersteller zu ersehnten Rettern der Menschheit. Klaus Leisinger, emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Basel und Präsident der Basler Stiftung Globale Werte Allianz, kennt die dem Pharmabereich eigenen, ethischen Konflikte zwischen medizinischen Zielen und Gewinninteressen sehr gut. Über viele Jahre hat er für das Schweizer Pharmaunternehmen Novartis gearbeitet und sich dabei für entwicklungspolitische Ziele wie den fairen und bezahlbaren Zugang zu Medikamenten engagiert.

Gutes Zeugnis für die Impfstoffhersteller

Ethisches Wirtschaften – das ist auch Thema eines aktuellen Buches von ihm („Integrität im geschäftlichen Handeln“, Friedrich-Reinhardt-Verlag, Basel), wo Leisinger nach einer pragmatischen Balance zwischen legitimen wirtschaftlichen Interessen und Moral sucht.

In der Coronapandemie stellt er der Pharmabranche insgesamt ein gutes Zeugnis aus: „Wie sich die Impfstoffhersteller verhalten, sehe ich insgesamt als beispielhaft an.“ Das Tempo, der Einsatz bei Impfstoffentwicklung und -produktion zeige, dass die Firmen wüssten, dass es hier um mehr gehe als ihr unternehmerisches Eigeninteresse. „Da wird sieben Tage die Woche, 24 Stunden gearbeitet“, sagt Leisinger.

Eine Lanze für Astrazeneca

Selbst bei viel geschmähten Firmen wie Astrazeneca will er kein ethisches Versagen attestieren. Mehr versprochen zu haben, als man einhalten könne, sei eher ein Organisationsproblem. Die Forderung nach staatlichen Eingriffen zur Beschleunigung der Impfstoffproduktion sieht er deshalb sehr kritisch. Die Coronakrise zeige vielmehr die Komplexität nachhaltigen und ethischen Handelns: „Politik, Unternehmen und vor allem die Gesellschaft sitzen da in einem Boot.“ Die jeweiligen Aufgabenbereiche dürften dabei nicht vermischt werden: „Eine Aktiengesellschaft ist nicht die Caritas.“ Gewinnstreben sei absolut legitim.

Recht und Politik können nur Mindeststandards setzen

Gesetzliche Regeln setzten nur Mindeststandards. „Es reicht oft nicht, sich innerhalb des rechtlich Vorgeschriebenen zu bewegen“, sagt er etwa im Hinblick auf Firmen, die ihre Arbeitsbedingungen in armen Ländern mit dem Argument verteidigten, sie hielten sich strikt an die Gesetze des jeweiligen Landes. Legalistisches Denken, wie das etwa in der angelsächsischen Managementkultur dominiere, sei der Feind unternehmerischer Ethik.

Um Vorsorge zu betreiben, etwa eine bessere Vorratshaltung von wichtigen Gütern, wie sie etwa zu Beginn der Pandemie Mangelware gewesen sind, brauche es sowohl verantwortliches Handeln von Unternehmen als auch der Politik: „Wenn der Staat etwa eine bestimmte Vorrats- und Lagerhaltung wünscht, kann er das ja durch steuerliche Anreize begünstigen.“

Bei Fragen von Leben und Tod hat Gewinninteresse keinen Platz

Und insbesondere bei Fragen, bei denen es um Leben und Tod gehe, müsse man auch privatwirtschaftliche Strukturen hinterfragen: „Krankenhäuser sollten nicht gewinnorientiert sein“, sagt er. Als ein anderes Beispiel nennt er eine Branche, die für ihn in der Coronakrise zumindest anfangs wenig ethisch gehandelt habe: „Versicherungen haben bei Policen, die ausdrücklich zum Schutz vor Epidemien abgeschlossen wurden, erst einmal Zahlungen mit dem Argument verweigert, Corona sei aber eine Pandemie – und das sei nicht eingeschlossen.“ Auch hier könne man sich fragen, ob nicht genossenschaftliche Strukturen die bessere Lösung seien – schließlich seien Versicherungsnehmer eine Art Solidargemeinschaft.

Wird der Lerneffekt aus Corona nachhaltig sein?

Ob die Coronakrise insgesamt und längerfristig zu einem nachhaltigeren und vorausschauenderen Denken führe, das sei noch offen. „Man hat jedenfalls erkannt, dass man Lieferketten nicht endlos komplex machen kann, und dass man bestimmte, strategisch wichtige Güter im Inland produzieren muss.“

Aber das alles sei auch ein Beispiel dafür, wie sich ethischer Impuls und Eigeninteresse der Unternehmen miteinander verbinden: „Nur wer mit Weitblick handelt, wird auch langfristig Erfolg haben“, sagt Leisinger. Das ist auch das Credo seines Buches, das für einen „prinzipientreuen Pragmatismus“ plädiert, nicht für moralischen Absolutismus. Wenn man ökologische Ziele einseitig verfolge, könne das etwa zu sozialen Verwerfungen führen.

Kein Plädoyer für Demokratie innerhalb der Unternehmen

Demokratie erreiche die Unternehmen dabei von außen: Durch das Verhalten der Aktionäre und der Kunden, durch die in demokratischer Diskussion entstehenden politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen sowie durch die kritische Beobachtung durch die Medien. Demokratische Prozesse innerhalb der Unternehmen selbst brauche es dafür nicht. Entscheidend sei das Ethos von deren Führung. „An die großen strukturellen Herausforderungen unserer Zeit kann man nur auf einer robusten Vertrauensbasis herangehen – für deren Aufbau ist jedoch integres Handeln Pflicht.“ Das Vertrauen der Kunden und der Gesellschaft sei das größte langfristige Kapital eines Unternehmens.