Leerer Campus in Coronazeiten: Christopher Behrmann von der Studierendenvertretung der Uni Stuttgart vermisst das soziale Leben im Studienalltag. Foto: Lichtgut/Julian Rettig

Die Corona-Pandemie stellt die Lehre für Stuttgarter Universitäten, Hochschulen und Studierende auf den Kopf. Wir haben uns umgehört, wie die Erfahrungen mit dem digitalen Semester sind. Und: Gibt es eine Fortsetzung der Online-Vorlesungen?

Stuttgart - An der Uni Stuttgart ist der Campus verwaist – auch in Vaihingen. Nur vereinzelte Jogger drehen hier ihre Runden. Denn die mehr als 22 000 Studierenden studieren seit dem Sommersemester coronabedingt daheim: in der WG oder bei den Eltern. Während in vielen anderen Bereichen die Coronaverordnung gelockert wurde, bleiben die Hochschulen bisher außen vor. Bis 30. Juni ist der Präsenzbetrieb dort ausgesetzt. „Saunen dürfen schon öffnen, Unis nicht“, sagt Christopher Behrmann, der Vorsitzende der Studierendenvertretung der Uni Stuttgart (stuvus). „Es ist ein großer Wunsch von uns, dass die Lernräume wieder geöffnet werden.“ Doch die sind seit dem Lockdown zu, ebenso Mensen und Sportanlagen. Die Hörsäle sind für Profs reserviert, die ihre Vorlesungen aufzeichnen, sowie für Prüfungen mit abstandsbedingt ausgedünnter Zahl an Prüflingen. Vorlesungen finden nur noch online statt.

Studierende unterstützen als E-Scouts ihre Profs bei der Lehre

Zu den Besonderheiten gehört, dass an der Uni Stuttgart viele Studierende ihre Profs bei der digitalen Lehre unterstützen: als E-Scouts. „Wir haben auch ein Feedback für Studierende eingerichtet“, so Behrmann. Dabei habe sich gezeigt: Nicht alle Professoren seien vertraut mit virtuellen Lehrformaten. „Die E-Scouts waren der zweite Schritt“, ergänzt Hansgeorg Binz, Prorektor für Lehre und Weiterbildung. „Im ersten Schritt haben wir eine Task Force digitale Lehre gebildet.“ Daran beteiligt waren auch Rechenzentrum und Didaktikabteilung. Daraus seien viele Anregungen entstanden und fast so etwas wie Kochrezepte, etwa: Welche Werkzeuge benutze ich wofür? Wie setze ich sie richtig ein? Man habe gemerkt, dass man die Lehre in kleinere, besser verdauliche Häppchen aufteilen müsse, sagt Simone Rehm, Prorektorin für Informationstechnologie. Und man habe thematische Foren eingerichtet, etwa zum Urheberschutz. „Das ist gar nicht trivial“, sagt Rehm im Blick auf aufgezeichnete Vorlesungen.

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Nicht für alle Kollegen sei die digitale Lehre Neuland, so Rehm. „Wir plädieren schon länger dafür, Vorlesungen aufzuzeichnen.“ Binz, der Konstruktionstechnik lehrt, tut es längst und profitiert nun davon. Dass die Uni statt auf Livestreams auf asynchrone Angebote setzt, also Formate, die zu unterschiedlichen Zeiten und mit unterschiedlich guten technischen Voraussetzungen abgerufen werden können, hebt Behrmann als sehr positiv hervor: „Damit hilft man vielen, die schlechtes Internet haben.“ Rehm kündigt eine Öffnung der PC-Pools an, jedoch gekoppelt an eine Online-Registrierung, um die Zahl der Nutzer im Blick auf das Hygienekonzept steuern zu können.

Die Uni als sozialer Lebensraum findet in Coronazeiten nicht statt

Trotz aller Bemühungen um Digitalformate bleibe einiges auf der Strecke, räumt Binz ein: „Alles, was mit Praktika zu tun hat.“ Viele Kollegen hätten diese deshalb verschoben und Theorie vorgezogen. Aber das sei nicht nur in der Chemie grenzwertig – „da muss es halt auch mal knallen“, meint der Prorektor. Auch angehende Sportlehrer hätten eine Durststrecke – dort sei ein Nachlauf in der vorlesungsfreien Zeit geplant. Schwierig sei aber das Bilden von Lerngruppen. Behrmann ergänzt, viele Kommilitonen vermissten die klassischen Übungen, Tutorien, Seminare – in echt. „Es fehlt der persönliche Kontakt, für viele ist die Uni auch der soziale Mittelpunkt ihres Lebens“, erzählt Christopher Behrmann. „Viele Studierende fragen sich, ob es sich noch lohnt, sich hier ein Zimmer zu leisten“, sagt Binz.

Werden also die künftigen Erstsemester weder ihren Campus noch ihre Kommilitonen kennenlernen? Schwierige Frage. „Alles fiebert auf den 1. Juli“, sagt Binz, da erwarte man „eine massive Neuordnung der Coronaverordnung“. Allerdings gehen er und Rehm davon aus, dass auch im Herbst noch die Abstandsregeln gelten und es weiterhin einen großen Anteil an digitalen Lehrveranstaltungen gibt, dazu vielleicht einzelne Präsenzformate. „Wir wollen ein Hybridmodell machen – eine Art rollierendes System.“ Dazu wolle man die Erstsemester in Kleingruppen aufteilen. Möglich sei ja bereits seit 15. Juni, dass 20 Leute in einem Raum sein dürfen.

Der Prorektor befürchtet Verteilungskämpfe um die Hörsäle

„Unser nächstes großes Problem ist die Prüfungsphase nach der Sommerpause“, so Binz. Das betreffe allein in der Höheren Mathematik 1400 Leute, in der Mechanik 800. „Unser größter Hörsaal hat zwar 800 Plätze, darf aber nur mit 80 Leuten belegt werden. Dann werden die Verteilungskämpfe losgehen“, so Binz. „Deshalb wollen wir auch Sporthallen einsetzen“. Das wird den Sportstudenten nicht gefallen.

Doch es gebe auch Positives. „Die Kontakte und der Austausch bei der Lehre zwischen den Landesunis ist um Lichtjahre verbessert worden“, meint Binz. Auch der Teamgeist in der Uni sei gewachsen. „Das E-Learning ist vorangekommen“, ergänzt Behrmann – „ein guter Schritt, der sollte erhalten bleiben – aber nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung“.

So läuft das Semester an der Universität Hohenheim (rund 8956 Studierende)

In den drei Fakultäten Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Naturwissenschaften und Agrarwissenschaften findet derzeit die Lehre per Video statt. Die technische Umsetzung sei zwar kein Problem gewesen, doch der Arbeitsaufwand sei für die Lehrenden enorm gestiegen, sagen die drei Dekane unisono.

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In den natur- und agrarwissenschaftlichen Studiengängen sei es zu etlichen Ausfällen gekommen. Verständlich, denn die praktischen Übungen im Freien lassen sich schwer in Videos vermitteln. Michael Kruse, Studiendekan der Fakultät Agrarwissenschaften, sagt: „Bei uns fielen bis auf ganz wenige Ausnahmen alle Exkursionen, Feldbegehungen, Veranstaltungen in Lehrgarten und Praktika aus.“ Kruse ist gespannt, wie sich die veränderte Lehre im Sommersemester auf die Prüfungsergebnisse auswirkt. Er ahnt, dass es gewisse Probleme geben wird.

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Jörg Schiller, Studiendekan der Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, malt ebenfalls ein dunkles Bild hinsichtlich der Klausuren. Er erwartet weniger Anmeldungen und mehr Durchfaller. Der Grund: fehlender Präsenzunterricht, fehlende Motivation, schlechtere Lernerfolge. Die Online-Lehre funktioniere zwar gut, doch: “Insgesamt leidet jedoch die Diskussionskultur aufgrund der geringeren Mitarbeit der Studierende.“ Er betont, wie wichtig der Präsenzunterricht ist – auch für die Dozenten. „Studierende aktiveren in Zoom-Meetings nicht die Kamera, sodass die Dozenten gegen eine schwarze Wand sprechen. Das ist demotivierend, aber nicht einfach zu ändern.“ So gehe auch der Kontakt zu den Studierenden verloren – besonders zu Erstsemestern.

Eine abschließende Evaluation für Dozenten und Studierende stehe aber noch aus. Und im nächsten Semester? Vorlesungen mit vielen Studierenden können wohl weiterhin nicht in Präsenzform stattfinden – an der Fakultäten wird es dann das nächste Online-Semester mit wenigen Ausnahmen geben.

So läuft das Semester an der Hochschule der Medien (HdM) (5169 Studierende)

Die Evaluation für das „besondere Semester“ an der HdM startet nächste Woche, Mathias Hinkelmann kann dennoch ein erstes Fazit ziehen. Doch zuerst ein Blick in die Zukunft, der Prorektor Lehre kann frisch verkünden: Das Wintersemester an der HdM beginnt am 12. Oktober. Ob die Studierenden dann wieder gemeinsam im Hörsaal sitzen, muss abgewartet werden. Bei der Entscheidung spielt neben der Evaluation auch eine Rolle, wie die Prüfungsphase verläuft. „Erst nach deren Abschluss ist sichtbar, was sich etwa beim Kompetenzerwerb verändert hat und wie die Hochschule darauf reagieren kann“, meint Hinkelmann. Heißt: Die HdM möchte – wie die Universität Hohenheim – abwarten, ob sich die veränderte Lehre in den Prüfungsergebnissen niederschlägt.

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Zurück in der Gegenwart zeigt sich, dass die Online-Seminare und Vorlesungen zumindest von technischer Seite funktioniert haben. Es habe positives Feedback zum Semesterstart aus den Dekanaten der drei Fakultäten gegeben. Projekte in der Gruppe – laut Hinkelmann charakteristisch für das Studium an der HdM – müssten ebenfalls im virtuellen Raum umgesetzt werden. Für Arbeiten, die eine spezielle Labor- oder Studioeinrichtung benötigen, gestalte sich das schwierig – hierbei sei die Präsenz unersetzbar, so der Prorektor. Studierende könnten aber inzwischen in kleinen Gruppen mit maximal zehn Personen an der HdM arbeiten, wenn die Hygiene- und Abstandsregeln eingehalten werden. Eine bittere Pille müssen die Studierenden schlucken, die im Sommersemester ihren Abschluss feiern: Die Absolventenfeier vor Ort wird es nicht geben. Außerdem wird die Abschlussveranstaltung „MediaNight“, bei der Semesterarbeiten vorgestellt werden, nur virtuell im Netz gezeigt.

So läuft das Semester an der Dualen Hochschule Baden Württemberg (DHBW) (rund 8600 Studierende in Stuttgart)

Von jetzt auf gleich – mitten im Semester: Die Duale Hochschule Baden Württemberg in Stuttgart musste urplötzlich den Unterricht ins Netz bringen. Das klappte dank viel Flexibilität und Pioniergeist, wie Carolin Höll von der Hochschulkommunikation mitteilt. Herausfordernd sei gewesen, dass Digitalkompetenzen bei den Lehrkräften und Studierenden innerhalb kurzer Zeit gestärkt werden mussten. Daher seien Schulungen, Tutorials sowie individueller Support angeboten worden. Der Druck bei den Lehrenden, mit der neuen Situation und dem gestiegenen Arbeitsaufwand, sei durchaus spürbar gewesen, heißt es seitens der DHBW.

Die schnelle Umsetzung ist auch den Studierenden nicht entgangen. Jamie Speidel ist Studierendensprecherin an der DHBW Stuttgart und meint: “Ich denke, dass die Hochschule mit der kurzfristigen Entscheidung kämpfen musste.“ Sie berichtet, dass zu Beginn der Pandemie viele Studierende Angst gehabt haben, ihren Studienplatz zu verlieren. Betriebe hätten Kurzarbeit oder Insolvenz anmelden müssen. Doch sie lobt: „Das Präsidium der DHBW hat sich nach Lösungen bemüht und eine Tauschbörse für Betroffene errichtet.“ Über die neue Lehr-Form per Video sagt sie: „Es wird meiner Meinung viel Selbststudium verlangt, da manche Vorlesungsinhalte digital nicht so rübergebracht werden können, wie im persönlichen Kontakt.“

Studierende bekommen Messtechnik-Kit nach Hause

Die DHBW Stuttgart versucht dennoch so viele Veranstaltungen wie möglich umzusetzen – dafür bekommen die Studierenden schon mal ein Paket zugeschickt. Bei technischen Laborveranstaltungen gibt es nämlich ein “Lab-2-Go“, bei dem Studierende mit einem Messtechnik-Kit ihre Versuche im eigenen Heim durchführen können. Dennoch: Bei Laborpraktika in den Bereichen Gesundheit und Technik seien Präsenzveranstaltungen nach wie vor wirkungsvoller, so Carolin Höll von der Hochschulkommunikation.

Und wie ist der Plan nach Corona? Es soll dort mehr digitale Lehrangebote geben, wo diese sinnvoll sind. Beispielsweise gebe es das Pilotprojekt „Virtuelle DHBW“, bei dem virtuelle Entsprechungen der realen Vorlesungsräume abgebildet werden. Dennoch werde die DHBW Stuttgart eine „Präsenzhochschule“ bleiben, die mit hohem Praxisbezug die Vorlesungen gestalte.