Seit Anfang 2019 widmet sich eine Arbeitsgruppe aus Kripo-Ermittlern und Spezialisten des LKA dem Thema „Cold Cases“. (Symbolbild) Foto: dpa/Marijan Murat

Mord verjährt nicht. Doch wie viele ungelöste Fälle es im Land gibt, kann derzeit keiner sagen. Eine Arbeitsgruppe des LKA soll Licht ins Dunkel bringen.

Stuttgart/Freiburg - Dass der neue Hinweis richtig heiß sein könnte, war Andreas Nußbaumer sofort klar. 15 Jahre waren seit dem gewaltsamen Tod einer Frau in Bad Krozingen (Kreis Breisgau-Hochschwarzwald) vergangen, ohne dass ein Täter ermittelt werden konnte. Im Sommer 2018 hatte der Freiburger Kriminalhauptkommissar plötzlich wieder eine Spur auf dem Schreibtisch. „Da regt sich jedes Ermittler-Gen in einem, und es beginnt zu kitzeln“, erinnert sich der 33-Jährige. „Aber gerade dann muss man besonders besonnen vorgehen.“

Bis zur Verhaftung des später verurteilten Mörders vergingen noch rund zwei Monate, in denen 35 Beamte unter Leitung Nußbaumers den Fall neu aufrollten. Mord verjährt nicht. Deshalb gelten diese Fälle erst als abgeschlossen, wenn ein Täter gefunden wurde. Werden die Ermittlungen vorerst ergebnislos eingestellt, handelt es sich in der Sprache der Kriminalisten um einen „Cold Case“, einen „kalten Fall“.

Dass solche Kapitalverbrechen später doch noch aufgeklärt werden können, gelingt immer wieder. Zuletzt etwa im Fall des Mordes an einer Frau aus Sindelfingen. Die 35-Jährige war im Sommer 1995 auf dem Nachhauseweg angegriffen und mit zwölf Messerstichen getötet worden. Im Februar dieses Jahres wurde ein 69-Jähriger in Hamburg festgenommen. Die Fahnder waren bei einer neuerlichen Auswertung der DNA-Spuren auf ihn gestoßen. 2007 war der Mann wegen der Tötung einer anderen Frau verurteilt worden - deshalb tauchte er nun in der Datenbank auf.

Wie erfolgreich die Bearbeitung ungelöster Fälle in Baden-Württemberg ist, kann offiziell niemand sagen. Auf Anfrage teilt das Landeskriminalamt in Stuttgart mit, es gebe keine Statistik, die ausschließlich „Cold Cases“ erfasse. Werden Fälle aus der Vergangenheit später gelöst, fließt der Ermittlungserfolg in die Erfassung des laufenden Jahres ein.

Ein grobe Vorstellung bekommt man aber im Gespräch mit den Polizeipräsidien: Etwa 50 solcher Fälle gibt es derzeit beim Mannheimer Präsidium. Von rund 40 ungelösten Kapitalverbrechen sprechen die Kollegen in Freiburg.

Manche Ermittler arbeiten über viele Jahre hinweg an der Aufklärung eines Verbrechens. Wenn bei ihrer Pensionierung die Bilder der Opfer an der Büro-Pinnwand abgenommen werden, ist das für manche nicht leicht. „Man fühlt bei diesen Fällen schon eine besondere persönliche Verantwortung, die Arbeit im Sinne der Opfer und Angehörigen fortzuführen“, sagt Andreas Nußbaumer.

Wie regelmäßig und intensiv Altfälle bearbeitet werden, ist in jedem Polizeipräsidium etwas anders geregelt. Oft kümmern sich einzelne Beamten als sogenannte Paten darum. Allerdings: Aktuelle Fälle, Personalmangel und die immer noch lückenhafte Digitalisierung von Akten verhindern oft, dass sich Ermittler wirklich nachhaltig mit einzelnen Verbrechen beschäftigen können.

Oft kann einem die verstrichene Zeit sogar helfen

Vier Umzugskartons mit Aktenordnern mussten Nußbaumer und ein Kollege aus dem Keller des Freiburger Präsidiums holen und deren Inhalt eigenhändig einscannen, um effektiv mit dem Material arbeiten zu können. So ein Aufwand ist meist nur zu rechtfertigen, wenn ein heißer Hinweis von außen kommt.

Das alles könnte sich jetzt ändern: Seit Anfang 2019 widmet sich eine Arbeitsgruppe aus Kripo-Ermittlern und Spezialisten des LKA dem Thema „Cold Cases“. Neben der erstmaligen statistischen Erfassung der landesweiten Fälle geht es dabei vor allem um eine künftige Neuausrichtung der Ermittlungsarbeit. Möglich ist beispielsweise die Gründung einer eigenständigen Sondereinheit, die sich ausschließlich den liegengebliebenen Aktenbergen widmen soll.

Die Leiterin der Arbeitsgruppe, Sabine Rieger, würde eine solche Entscheidung begrüßen. „Diese Art der Ermittlung ist nicht für jeden etwas“, sagt die Kriminalhauptkommissarin beim LKA. Riesige Aktenberge, inzwischen gestorbene Zeugen, nicht mehr existente Tatorte - das kann zu Ermittler-Frust führen. Rieger dagegen ist von den ganz speziellen Herausforderungen diese Fälle fasziniert. „Man muss dabei versuchen, das Vergangene zum Sprechen zu bringen“, sagt sie.

Oft könne einem die verstrichene Zeit sogar helfen, sagt Rieger. Zum einen biete die erst in den 1990er Jahren eingeführte DNA-Analyse heute ganz neue kriminaltechnische Möglichkeiten. Zum anderen wiegt die Last der Mitwisserschaft mit den Jahren oft immer schwerer. So seien beispielsweise Ex-Partner nach einer Trennung eher bereit, gegen einen Verdächtigen auszusagen.

Auch im Bad Krozinger Mordfall war es letztlich ein Hinweis aus dem Umfeld des Täters, der zur Verhaftung führte. „Solche Menschen schleppen oft das Gefühl mit sich herum, endlich diesen Druck loswerden zu wollen“, sagt Nußbaumer. Auch für die Ermittler bedeute die erfolgreiche Arbeit an einem alten Fall, ein Stück Verantwortung mit gutem Grund abgeben zu dürfen.