Mehr als 1000 Tage sind vergangen, seit Russland die Ukraine überfallen hat – ein trauriges Jubiläum, das aus den Schlagzeilen meist schnell wieder verschwand. Wie kämpfen Ukrainerinnen und Ukrainer in Stuttgart um öffentliche Aufmerksamkeit?
Der Krieg ist für viele längst zu einem leisen Hintergrundrauschen geworden, verdrängt von anderen Krisen und weltpolitischen Konflikten. Doch für Denis Zipa ändert sich am 24. Februar 2022 alles. Geboren ist er in Kyjiw. 1995 zieht seine Familie nach Deutschland, in die Nähe von Heilbronn. Er studiert, arbeitet als Softwareentwickler und betreibt ein kleines Unternehmen. Als politisch aktiv hat er sich nie verstanden. Doch dann kam der Angriff Russlands, und plötzlich legte sich ein Schalter um.
Als Russland die Ukraine überfällt, ist Zipa nicht überrascht. Trotzdem war es ein Schock. Es ist eine komische Situation, wenn man jahrelang eine Anspannung mit sich trägt, eine böse Vorahnung, die dann tatsächlich eintritt. Zipa beschließt, aktiv zu werden. „Zum allerersten Mal habe ich etwas in den sozialen Medien gepostet“, erinnert er sich. „Ich habe geschrieben, heute bin ich aufgewacht und die Welt ist eine komplett andere geworden“. Wenige Wochen später gründete sich die Initiative Ukraine Demo Stuttgart, mit Zipa als Mitorganisator. Anfangs mobilisierten die wöchentlichen Kundgebungen viele Menschen: „Wir hatten immer zwischen 250 und 300 Teilnehmer“, erzählt er. Vom Spätsommer 2022 an wurden die Versammlungen kleiner, die anfängliche Welle der Solidarität ließ nach. Besonders die deutsche Unterstützung bleibt fern, die Kundgebungen wurden zunehmend von Ukrainern und Ukrainerinnen besucht.
„Es frustriert mich nicht, ganz im Gegenteil“, sagt Zipa. „Mir war klar, dass es so kommen wird. Dass das Engagement abnimmt ist absolut verständlich.“ Trotzdem bleibt sein Ziel, die deutsche Zivilgesellschaft wachzurütteln. Die Ukraine sei nicht nur ein Kriegsschauplatz, sondern ein Testfall für Werte wie Freiheit und Demokratie in Europa – Werte, die auch in Deutschland verteidigt werden müssten.
Leben zwischen zwei Welten
Auch für Olga Bohachova aus Stuttgart hat sich mit dem Beginn des großen Angriffskrieges viel verändert. Seit mehr als 20 Jahren lebt sie schon in Deutschland, doch der Krieg hat ihre Verbindung zur Ukraine neu definiert. „Für mich fühlt sich auch in Stuttgart jeder Tag an wie Krieg. Obwohl ich über 1800 Kilometer entfernt bin,“ sagt Bohachova. Jeder Tag beginnt für sie mit einer festen Routine: Warnungen aus der Ukraine über russische Raketen- und Drohnenangriffe auf ihrem Handy prüfen, Nachrichten lesen, Familie und Freunde kontaktieren, die Lage analysieren. „Heute Nacht war der Alarm in Kyjiw über fünf Stunden lang“, berichtet sie nüchtern. In solchen Nächten kann sie kaum schlafen. Olga benutzt eine App, die vor Luftangriffen warnt, ein Überbleibsel ihres letzten Besuchs in der Ukraine. Löschen kann sie die App nicht. Es ist eine direkte Verbindung zu ihrer Familie und ihren Freunden, auch wenn sie manchmal schwer zu ertragen ist. Fünf Stunden Alarm, das bedeutet, es ist ernst. Die Dauer der Warnungen gibt ihr Hinweise auf die Intensität der Angriffe. Ist der Alarm vorbei, meldet sie sich bei Familie und Freunden, um sicher zu gehen, dass alles in Ordnung ist. Dann geht sie zur Arbeit.
Tausend Tage Krieg
Auch wenn der Krieg zum ständigen Begleiter geworden ist, gibt es Tage, die die Realität mit voller Wucht zurückbringen. Mitte November ein trauriges Jubiläum: 1000 Tage sind seit Beginn des russischen Angriffskriegs vergangen. Für Olga bedeutet das 1000 Tage im Schockzustand. „Für mich und viele andere Ukrainer dauert der Krieg eigentlich schon über zehn Jahre. Aber diese 1000 Tage des großen Krieges – das ist kaum zu fassen“, sagt sie nachdenklich. Während einige Medien über den Tag berichten, blieb er in Olga Bohachovas direktem Umfeld weitgehend unbeachtet. Sie versteht, dass Menschen, die nicht direkt betroffen sind, eine andere Wahrnehmung haben. Dennoch denkt sie, dass Russlands potenzielle Bedrohung hierzulande unterschätzt wird. „Sollte die Ukraine fallen, verschwinden die russischen Raketen, die gerade Tag für Tag die ukrainischen Städte und Infrastruktur angreifen, doch nicht. Sie rücken nur näher an Westeuropa heran“, sagt sie.
Tausend Tage Durchhaltevermögen
Auch Zipa möchte, dass die Bedrohung ernstgenommen wird. Unermüdlich organisiert er Veranstaltungen, um die Aufmerksamkeit auf die Ukraine zu lenken. Im November lädt er die Dichterin und Autorin Anastasija Dmytruk nach Stuttgart ein. Dmytruk, die aus Kyjiw stammt, liest aus ihrem Buch „Die Augen von Mariupol“. Das Buch ist eine Sammlung von Nachrichten und Zeichnungen der Soldaten aus dem belagerten Stahlwerk Asowstal, das für viele für den Widerstand der Ukraine steht.
Auch die Neuwahlen in Deutschland im Februar beschäftigen Denis Zipa und Olga Bohachova: Beiden geht es nicht nur um die politische Zukunft Deutschlands, sondern auch um die Unterstützung der Ukraine, die an verlässliche internationale Partner gebunden ist. „Wir wollen den Wählern bewusst machen, wie wichtig ihre Stimme ist“, sagt Zipa. Für Januar plant die Bürgerinitiative eine besondere Kundgebung in Stuttgart. Vertreter und Vertreterinnen demokratischer Parteien sollen eingeladen werden, um ihre Positionen zur Ukraine-Politik vorzustellen und sich den Fragen der Öffentlichkeit zu stellen. „Es geht darum, Verantwortung einzufordern und den Fokus wieder auf die Ukraine zu lenken“, erläutert Zipa. Für ihn ist klar: Wer hierzulande Verantwortung trägt, bestimmt auch über die Zukunft seines Heimatlandes mit. Für Olga Bohachova und Denis Zipa bleibt der Krieg ein Kampf, der nicht nur in der Ukraine ausgefochten wird. Es ist auch ein Kampf um Aufmerksamkeit und Solidarität und für das Bewusstsein, dass Frieden keine Selbstverständlichkeit ist – weder in der Ukraine noch in Deutschland.
Info
Veranstaltung
Die nächste Kundgebung der Bürgerinitiative Ukraine Demo Stuttgart findet am Samstag, 25. Januar, um 14 Uhr auf dem Schlossplatz in Stuttgart statt.