Sie gehen als Favoriten in den diesjährigen Eurovision Song Contest: Die sechs Musiker der Band Kalush Orchestra wollen der Welt zeigen, dass die Ukraine sehr wohl eine eigene Kultur hat: jung, modern, bunt – ukrainisch und europäisch zugleich.
Eigentlich dürften sie gar nicht hier sein – seit Kriegsbeginn am 24. Februar ist allen ukrainischen Männern zwischen 18 und 60 Jahren die Ausreise bekanntlich verboten. Auch die sechs Musiker der Band Kalush Orchestra haben bis vor zweieinhalb Wochen noch an verschiedenen Stellen für die Verteidigung ihrer Heimat gegen den russischen Aggressor gekämpft. Doch dann sind sie mit einer Ausnahmegenehmigung der Regierung ins norditalienische Turin gefahren. Ihre Mission: Sie sollen die Ukraine beim diesjährigen Eurovision Song Contest (ESC) vertreten. Und wenn es nach dem Eindruck der vergangenen Tage und nach den Wettbüros geht, dann könnten sie das Grand Final am Samstagabend sogar gewinnen.
„Es ist wie beim Lotto“
„Wir sind alle in diesen Tagen voller Sorgen um unsere Familien“, berichtet der Kalush-Chef Oleh Psiuk am Rande der Proben den Journalisten. „Es gibt im Moment keinen wirklich sicheren Ort in der Ukraine. Es ist echt wie beim Lotto, man weiß nie, wo man in Gefahr ist.“ Trotzdem seien sie voller Überzeugung zum ESC nach Turin gereist: „Wir fühlen uns hier wie auf einer Mission. Denn in diesem Moment, während wir hier sprechen, wird die ukrainische Kultur zerstört.“ Die Band betrachte es als ihre Aufgabe „zu zeigen, dass unsere Kultur lebt und viel zu bieten hat“.
Annäherung an die Mutter und an die Nation
Was die sechs Künstler auf der Bühne präsentieren, ist ein sehr energischer Ethno-Folk-Rap-Mix, der beim Halbfinale am Dienstagabend in der Turiner Palaolimpico-Halle das gesamte Publikum zum Mitklatschen und Jubeln brachte. Ruhigere Gesangspassagen, harter Sprechgesang und Flötensignale wechseln sich ab: Das ist wahrlich keine elegische Friedenshymne, wie Nicole sie 1982 mit ihrem Gewinnerlied „Ein bisschen Frieden“ gegen Atomraketen präsentierte; das hier ist ziemlich wild, heftig, sehr bunt, jung und modern. Und eigentlich geht es auch gar nicht um den Krieg, sondern um Oleh Psiuks Mutter.
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Der Titel „Stefania“ ist ein halbes Jahr vor Beginn des Russland-Ukraine-Kriegs entstanden. Psiuk rappt darin über eine Frau, zu der er keineswegs immer ein gutes Verhältnis gehabt habe, aber, wie es nun heißt, „die doch nachts meinen Schlaf bewachte, wenn draußen die Stürme tobten“. In seiner Heimat ist der Titel gerade überall zu hören; längst begreifen ihn die Landsleute auch im übertragenen Sinn: als Song auf die eigene Nation, mit der es auch anfangs nicht immer einfach war. „Ich werde immer zu dir kommen, auch wenn alle Straßen zerstört sind“ – ein solcher Satz wird nun zum Sinnbild für ein Land, das die russischen Truppen an einigen Orten bereits in Schutt und Asche zerbombt haben.
Ruslana sang den Song zur „Orangenen Revolution“
Die Ukraine hat eine in vielerlei Hinsicht erfolgreiche ESC-Geschichte – und die ist überaus politisch! Seit 2003 nimmt das Land am Popsong-Wettbewerb der Europäischen Rundfunk-Union (EBU) teil. Und gleich im zweiten Jahr ernteten sie einen triumphalen Sieg: die „Wild Dances“, ein spektakuläres Ethno-Rock-Stück der Sängerin Ruslana, gehört inzwischen unter Fans zu den ESC-Legenden.
Vor allem aber wurde der Titel im November 2004 zur heimlichen Hymne der Orangenen Revolution in Kiew: Über Wochen hinweg demonstrierten Hunderttausende in der Hauptstadt gegen Fälschungen bei der Präsidentenwahl. Ruslana reihte sich demonstrativ ein und gab mehrfach kleine öffentliche Konzerte. Gemeinsam erzwang man eine Wiederholung der Stichwahl im Dezember und verhalf so dem ersten prowestlichen ukrainischen Präsidenten Wiktor Juschtschenko ins Amt.
Jamala erinnerte an die Krim-Tataren
Auch der zweite ukrainische ESC-Sieg markiert einen historischen Einschnitt: 2014 hatte Putin die Krim durch russische Truppen besetzen lassen. Im Mai 2016 trat die ukrainische Sängerin Jamala in Stockholm mit ihrer Ethnoballade „1944“ an. Ein offener Protestsong gegen die russische Krim-Annexion wäre niemals von der EBU erlaubt worden; die ESC-Regeln verbieten jedes politische Manifest auf der Bühne. Doch Jamala wählte den Weg der Kunst: Ihr Lied erzählt vom Schicksal ihrer Familie von Krimtataren; ihre Großeltern wurden just 1944 von Stalins Truppen aus ihrer Heimat verschleppt, weil sie als „national unzuverlässig“ eingestuft wurden.
Moskau versuchte, Jamalas Auftritt beim Eurovision Song Contest zu verhindern. Das war nicht nur vergeblich, vielmehr gewann der musikalisch sehr ungewöhnliche Song zum Schluss sogar die Punktewertungen der Fachjurys und des Publikums. Im Mai 2017 fand der ESC in Kiew statt – Russland blieb demonstrativ fern und weigerte sich, das Event im Staatsfernsehen auszustrahlen. Aber auch „1944“ ist ein Titel, der noch heute vielfach in ukrainischen Radioprogrammen zu hören ist.
Klug gewählte Schlussworte
Folgt nun der dritte ESC-Sieg der Ukraine? Anders als die übrigen Teilnehmer war Kalush Orchestra in den vergangenen Tagen kaum auf den zahlreichen Empfängen in der Stadt zu erleben. „Wir hatten uns wegen des Kriegs so lang nicht gesehen“, berichtet Psiuk, „dass wir hier jede Gelegenheit zum Proben nutzen mussten.“
Wie gesagt: Der Eurovision Song Contest ist strikt reglementiert; politische Äußerungen und Kundgebungen der Teilnehmer sind untersagt, sonst wäre diese alljährliche größte Popshow der Welt mit einem Zig-Millionen-Publikum zwischen Kanada im Westen und Neuseeland im Osten gar nicht durchführbar. Nach dem fulminanten Halbfinal-Auftritt am Dienstag rief Psiuk immerhin noch einen Satz in den Publikumsjubel, bevor die Kamera ausblendete: „Danke für die Unterstützung der Ukraine.“ Das waren sehr schlau gewählte Worte, denn im Zweifel könnten sie einfach bedeuten: „Danke, wenn ihr beim Voting für uns abstimmt!“ Aber gemeint waren sie natürlich ganz anders – und Europa wird sie zweifellos auch genauso verstehen.