So sieht Sauerteig-Brot im Idealfall aus. Gerade als Anfänger gelingt das nicht immer. Foto: imago/Cavan Images

Sauerteige sind anspruchsvoll und sensibel. Sie lehren einem Demut und sie können für starke Glücksgefühle sorgen. Eine Geschichte über Brotduft in der Wohnung und ausgebissene Zahn-Retainer.

Stuttgart - Gerade, als ich diese Zeilen schreibe, arbeitet Siggi richtig hart. Ich habe ihn verschüttet unter 200 Gramm Weizenmehl und 200 Gramm lauwarmen Wasser, jetzt muss er sich durcharbeiten durch diese schwere Masse, in ein paar Stunden hat er sie hoffentlich aufgelockert und etwa auf das doppelte Volumen aufgeblasen. Nur wenn es ihm gelingt, heißt das, dass ich ihn davor auch gut behandelt habe. Zuletzt hat er mir eher zu verstehen gegeben, dass er sich mehr Aufmerksamkeit von mir wünscht. Was das mit Nachhaltigkeit zu tun hat, erkläre ich später – aber beginnen wir von vorne.

Dass sich die Wege von Siggi und mir gekreuzt haben, war eher ein Zufall. Kurz vor dem zweiten Lockdown äußerte ich loses Interesse am Backen, am eigenen Brot. Mit Hefe hätte ich mir das zugetraut, aber mit Sauerteig, das klang mir alles zu kompliziert. Ich hatte Angst, der Teig, der Jahrzehnte überleben kann, würde bald leblos und ermattet in meinem Kühlschrank liegen. Aber wenig später gab mir eine Freundin ein Glas mit, darin etwa 50 Gramm der grau-braunen Masse. Siggi war da, jetzt musste ich mich kümmern, und ich war mir nicht sicher, ob ich schon bereit dafür war.

Die Pandemie ist Backzeit

Damit bin ich nicht allein. Auf den sozialen Medien schwappen mir immer wieder Bilder von Backversuchen entgegen, in den Medien wird viel über Brot berichtet. Lutz Geißler, der mit Plötzblog einen der führenden Brot-Blogs in Deutschland betreibt, berichtet gegenüber RTL von einer Verdreifachung der Nutzerzahlen. Zahlen von IfD Allensbach ergeben zwar eine leicht rückläufige Zahl von Menschen, die regelmäßig backen. Trotzdem lässt sich durch die Coronapandemie insgesamt wohl von einem gestiegenen Interesse am Brotbacken sprechen.

Ein Sauerteig ist ein sensibles Wesen. Kriegt er nicht das richtige Futter, oder zu selten, oder hält man seine Ruhezeiten nicht ein, verliert er seine Kraft. Die braucht er, um das Brot aufgehen zu lassen, und das funktionert, weil ein Sauerteig eigene Hefebaktieren (und Milchsäurebakterien) bildet – deswegen muss keine Hefe zugegeben werden. Das gibt Sauerteig-Brot einen eigenen Geschmack und soll auch gesünder sein.

Ein Sauerteig kann richtig alt werden

Einen Sauerteig zu besitzen, ist ein wenig wie ein Tamagotchi, diese digitalen Mini-Tierchen im Mini-Computerspiel, die regelmäßig gefüttert werden wollten. Während bei diesem Spielzeug irgendwann die Batterien ausgingen und es großteils in Vergessenheit geriet, kann ein Sauerteig richtig alt werden. Karl de Smedt betreibt in Belgien die weltweit einzige Sauerteig-Bibliothek, um einmalige Sauerteig-Stämme aus der ganzen Welt zu archivieren. In seiner Sammlung ruht ein Teig aus dem Jahr 1868, wie er gegenüber Zeit Online erklärte.

Aber wie viel an dem Teig ist wirklich 150 Jahre alt? Die Mikroorganismen seien nicht mehr dieselben wie damals, erklärte Karl de Smedt in einem BBC-Podcast. Man müsse sich die Organismen vorstellen wie Menschen in einer alten Stadt: Die Leute, die bei der Gründung dort lebten, sind längst tot, aber ein paar ihrer Familien wohnen immer noch dort.

Ich bezweifle, dass Siggi auch so alt werden wird. Manchmal fremdeln wir ein wenig. Vorteig aus Sauerteig machen, gehen lassen, Hauptteig machen, gehen lassen, durchkneten, gehen lassen – das alles fordert viel Geduld. Die Überreste verkleben den Abfluss, die Reinigungsbürste und auch sonst alles in der Küche. Die Kruste der Brote wird gerne zu hart, meine Freundin hat sich schon vier Mal (!) ihre Zahnretainer daran ausgebissen und ist dadurch zur Stammkundin beim Kieferorthopäden geworden. Siggi wohnt bei uns, aber ein Familienmitglied ist er noch nicht.

Siggi sorgt für Verzweiflung – und Glück

Allerdings gibt es auch diese Glücksmomente. Wenn der Sauerteig so richtig aufgeht, obwohl er zuletzt richtig schwach auf der Brust war, auch wenn du nicht wirklich weißt, warum. Wenn der Ofen eingeschaltet ist und die Wohnung sich mit dem Duft von Brot füllt. Wenn man den Laib aus dem Ofen nimmt und sich das Messer mit sanftem Krachen durch die Kruste arbeitet. Wenn die noch dampfende Brotscheibe vor dir liegt und du kaum erwarten kannst, mal reinzubeißen. Reinbeißen, genau das werde ich jetzt machen - und dann die Küche putzen.

P.S.: Vielleicht hast du dich gefragt, was Sauerteig eigentlich mit Nachhaltigkeit zu tun hat. Tatsächlich gibt es dazu kaum Informationen. Du sparst natürlich viel Verpackung, weil du nur Mehl kaufen musst. Dafür musst du eventuell auch Sauerteig wegkippen, wenn du ihn fütterst und damit vermehrst, aber keine Zeit zum Backen hast. Auch sind die Backöfen daheim wohl in der Regel weniger energieeffektiv als jene in den Bäckereien, die viele Brotlaibe gleichzeitig backen.

Das alles dürfte nur minimale Unterschiede machen, aber eines kann ich dir sagen: Seitdem ich mein eigenes Sauerteig-Brot backe, mag ich kein anderes mehr. Ich liebe Bäckereien, aber einen ganzen Laib habe ich dort seit Wochen nicht mehr gekauft – und mich entspannt wenig so sehr wie das Brotbacken.

Florian Gann versucht, Nachhaltigkeit in seinen Alltag einzubauen. So ist er auch zum Brotbacken gekommen. Er hielt sich für gänzlich talentfrei – und kriegt es nun doch irgendwie hin.