Die Freiwilligen von Animal Rescue Charkiw retten Tiere trotz russischer Angriffe. Mit ihrem Einsatz halten sie auch den Glauben an die Humanität gegen die Barbarei des Krieges am Leben. Eine Win-Win-Situation für Mensch und Tier.
Offenbar wirkt dieser aus der Not geborene Ort auch aus der Distanz, schon wenn man nur von ihm erzählt. Yarina Vintoniuk berichtet von der Einrichtung, in der die Katzen des Krieges untergebracht werden. Dem Ort, an dem sie nach der akuten medizinischen Versorgung zu Ruhe kommen, sich erholen – und auf neue Besitzer warten oder auf ihre alten, wenn man sie findet und es ein Happy End gibt. Cats Rehablitation Centre nennt die 30-Jährige die in einem bombensicheren Keller gelegene Einrichtung, wenn sie deren Namen vom Ukrainischen ins Englisch übersetzt.
Offenbar ist das nicht nur für Katzen ein guter Ort. Kinder und Jugendliche, manche mit einer Behinderung, Studierende und Soldaten finden hier ein bisschen Ruhe, wenn sie die Katzen auf den Arm nehmen, streicheln und mit ihnen spielen. Der Ort ist auch eine Arzt Bollwerk eines menschen- und tierfreundlichen Miteinanders gegen die Barbarei des Krieges. Wenn man so will: eine Art Bekenntnis zur Zivilisation.
Yarina Vintoniuk macht beim Erzählen mit ihren Armen eine Bewegung, als liebkose sie ein Tier, das sich gerade an sie kuschelt. Wenn sie selbst im Reha-Center mit einer Katze sitze, fühle sie sich entspannt, als falle eine Last von ihr ab und als gebe es da draußen für wenige Momente den menschenverachtenden Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine nicht. Eine Win-win-Situation für Mensch und Tier scheint das zu sein. Auch eine Retterin muss mal durchatmen. Zwei Tage, erst mit dem Zug, dann mit dem Flugzeug, ist sie für ihre Stippvisite bei der Tierrechtsorganisation Peta mit ihrer Kollegin Olena Donets nach Stuttgart unterwegs gewesen. Peta unterstützt die Arbeit von Animal Rescue Charkiw.
Die Katzen-Reha – eine vergleichbar sichere Einrichtung für Hunde fehlt noch –, von dem Yarina berichtet, befindet sich in Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, nicht weit von den von Russland besetzten Gebieten gelegen. Einer Stadt mit 1,5 Millionen Einwohnern, die sich gerade wieder mit russischen Dauerangriffen konfrontiert sieht und in der fast täglich Infrastruktur zerstört wird und Menschen sterben.
Hier leben Yarina Vintoniuk und Olena Donets. Sie haben sich wie so viele fürs Bleiben entschieden. „May Life overcome everything“ steht auf ihren T-Shirts – Möge das Leben alles überwinden. „Was, wenn ich mich irgendwann frage, was hast du eigentlich zum Sieg beigetragen“, sagt Olena Donets, fragt man sie, woher sie die Kraft und die Motivation für ihren Einsatz nehme. Die einen backen Brot, ohne das vorher jemals getan zu haben. Sie tue eben das. Was im Februar 2022 noch unvorstellbar war, ist heute Alltag. Das Leben lehre sie, was zu tun sei. Nicht ihre Ausbildung.
Die Frauen haben beide Psychologie studiert und an den Universität gearbeitet. Jetzt organisieren sie Transporte, versuchen Spenden aufzutreiben, suchen Sponsoren, oder kümmern sich um den Social-Media-Auftritt ihrer Organisation. Die Akutklinik für die Versorgung der Tiere platzt aus allen Nähten. Bei der ersten Begegnung mit den beiden Frauen vor ziemlich genau zwei Jahren versorgten sie dort 70 Tiere pro Woche, heute sind es 70 bis 130 pro Tag. Auch das ist ein Indikator für die zunehmende Heftigkeit der Kampfhandlungen.
„Jeder tut etwas, wir versuchen, Tiere zu versorgen und zu evakuieren“, erklärt Olena Donets. Das sei ein kleiner Beitrag, die Wirklichkeit des Krieges zu verändern. Putin soll ihre Angst nicht bekommen. Der Alltag soll weitergehen. Jeder Tag ein kleiner Sieg. Aber Granatsplitter machen auch vor Tieren nicht Halt. Sie sind stumme und hilflose Opfer dieses Krieges, haben offene Wunden, gebrochene Knochen, sind traumatisiert oder haben das Vertrauen in die Menschen verloren, wenn sie tagelang mal mit, mal ohne ihre Familien Beschuss ausgesetzt waren.
Was sich auf den ersten Blick wie eine reine Tierrettung anhört, hat eine über das reine Handeln hinausgehende Bedeutung. Denn die Aktionen helfen den Menschen dabei, das Versprechen zu halten, dass die meisten von ihnen ihren Tieren irgendwann einmal gegeben haben. Der Landwirt seinen Ziegen und die Kinder ihrem Hundewelpen. Das Versprechen, für sie zu sorgen und für sie da zu sein. Komme, was wolle.
1300 Tiere haben die Helferinnen und Helfer von Animal Rescue Charkiw aktuell bisher aus der Region gerettet. Seit Mai, mit Beginn der russische Angriffswelle, fahren sie jeden Tag mindest einmal in die umkämpften Dörfer Vovchanks und Lyptski. Sie übernehmen Hunde zur Weitervermittlung innerhalb der Ukraine oder ins Ausland. „Das ist für die Besitzer unvorstellbar schwer. Die Tiere gehören doch zur Familie“, sagt Olena Donets. Wie ein Abschiedsgruß wirkt da der Steckbrief über Vorlieben und Vorleben des Tiere, dem manche ihrem Hund unter Tränen mit auf die Reise ins neue Leben geben. Es sind die vermeintlich kleinen Katastrophen des Krieges, die für die betroffenen Menschen aber weit mehr als nur eine Episode sind.
Retter werden beschossen
Zwei Tage nach dem Gespräch sitzen Yarina Vintoniuk und Olena Donets schon wieder im Zug zurück in den nur gut 2000 Kilometer entfernen Krieg in Europa. Und bereits während die beiden noch auf Stippvisite sind, kommt bei einer Rettungsaktion in Vovchansk eines der Teams unter heftigen russischen Drohnenbeschuss. Die Freiwilligen können sich retten, ihr Minitransporter jedoch wird zerstört. Mit einem Ersatzfahrzeug geht die Tierevakuierung dennoch weiter. Drei Fahrzeuge haben sie schon verloren.
Unermüdlich fahren die Helferinnen und Helfer seit Beginn des Krieges ins Umland. Sie tragen bei ihrer Arbeit Schutzwesten und Helme, treffen manchmal auf Soldaten, die froh sind, wenn sie die schutzlosen Tiere retten und versorgen oder ihnen Welpen und kleine Katzen übergeben – und manchmal trauen sie sich auch weiter vor als das Militär. Sie evakuieren Tiere und mitunter auch alte oder hilflose Menschen. Sie tun das, während die Angriffe weitergehen.
Auf ihren Videos von den Rettungsaktionen sehen kann, sieht man brennende Häuser oder Rauchschwaden am Horizont, manchmal von Detonationen unterbrochen. Vor allem aber sieht man die Wirklichkeit des Krieges– zerstörte Häuser, zerborstene Möbel, in Eile zurückgelassene Landwirtschaften, Trostlosigkeit und Verzweiflung bei den Menschen, die dort wie durch ein Wunder überleben. Und immer wieder Tiere. Hunde, deren Körper vor Freude tanzen, weil sie endlich wieder menschliche Ansprache haben.
Und solche, die sich panisch unter dem Sofa verstecken, weil ihre Welt in Scherben liegt. Ein Schwein, das dehydriert im Morast feststeckt. Eine Kuh, die sich kaum auf den Beinen halten kann. Eine Ziege mit ihren zwölf Zicklein. Kaninchen in Ställen, die niemand mehr versorgt. Und immer wieder Katzen und Hunde.
Die Videos, mit denen Animal Rescue Charkiw um Spenden wirbt, sind eine Dokumentation der vermeintlichen Kollateralschaden des Krieges, die auf die seelische Gesundheit der Menschen und damit der Gesellschaft zielen. Vielleicht haben sich die Psychologinnen Yarina und Olena gar nicht so weit von ihrem Metier entfernt.