Verbandsarzt Matthias Baumann mit dem mehrmaligen Zeitfahr-Weltmeister Tony Martin. Foto: red

Matthias Baumann ist Leitender Arzt beim Bund Deutscher Radfahrer. Hier erklärt der Sporttraumatologe und gebürtige Stuttgarter, welche Belastungen Etappen bei 40 Grad bedeuten und was gegen die hohen Temperaturen unbedingt getan werden muss.

Die Radprofis bei der Tour de France stöhnen unter der großen Hitze. Am Sonntag, bei der 15. Etappe nach Carcassonne, herrschten Temperaturen von 40 Grad. Der gebürtige Stuttgarter Matthias Baumann, der an der SRH-Klinik in Sigmaringen arbeitet, ist nicht nur Unfallchirurg, Orthopäde und Sporttraumatologe, sondern auch Leitender Verbandsarzt beim Bund Deutscher Radfahrer sowie Präsident der Medical Commission des Radsport-Weltverbandes UCI. Und somit der ideale Gesprächspartner zum Thema Hitze-Belastungen bei der Frankreich-Rundfahrt.

Herr Baumann, wie gefährlich ist eine Tour-Etappe bei 40 Grad?

Natürlich ist das gesundheitliche Risiko höher als bei geringeren Temperaturen. Aber Radprofis haben alle ein sehr gutes Hitzemanagement, wissen folglich, was zu tun ist. Zugleich gibt es in einem Peloton allerdings eine große Variabilität. Fahrer, die Hitze nicht vertragen, müssen schon extrem aufpassen.

Was ist unter Hitzemanagement zu verstehen?

Eine ausreichende Trinkmenge, das sind bei hohen Temperaturen bis zu 1,5 Liter pro Stunde. Die Betreuer achten dabei darauf, den Glukose- und Salzgehalt in den Getränken anzupassen. Dazu kommt die Kühlung. Vor dem Start werden dafür Kühlwesten verwendet, im Rennen vor allem in Strümpfe verpackte Eiswürfel, die im Nacken platziert werden. Auch Kühlgels sind im Einsatz. Neuerdings gibt es zudem Sensoren, die am Körper angebracht werden und die Körpertemperatur erfassen. Die Daten sehen die Fahrer dann auf ihren Radcomputern. Das hilft, um einschätzen zu können, ob das Hitzemanagement passt oder nicht.

„Die Hitze dort ist extrem trocken“

Wird durch die Getränke der Flüssigkeitsverlust des Körpers komplett ausgeglichen?

Das schaffen die Fahrer nicht ganz, was schnell zum Problem werden kann. Denn die Rechnung ist einfach: Auf einer Etappe darf ein Radprofi nicht mehr als zwei Prozent seines Körpergewichts verlieren, sonst nimmt die Leistungsfähigkeit enorm ab. Allerdings haben die Fahrer in Südfrankreich zwei kleine Vorteile.

Welche?

Zum einen gibt es im Radsport, anders als zum Beispiel in der Leichtathletik, den Fahrtwind. Und zum anderen ist die Hitze dort extrem trocken. Ich kann mich an die Rad-WM 2016 in Doha erinnern, als zur Hitze noch extreme Luftfeuchtigkeit kam. Da stößt die Klimaregelung des Körpers noch viel schneller an ihre Grenzen, weil keine Verdunstungskälte entstehen kann.

Wie gehen die Radprofis damit um, dass sie bei Hitze weniger Hunger verspüren?

Sie müssen sich zum Essen zwingen, was bei den Temperaturen und der großen Trinkmenge extrem schwerfällt. Trotzdem ist es unerlässlich, über Gels und Riegel Kohlenhydrate aufzunehmen.

Wie hoch ist der Kalorienverbrauch auf einer Bergetappe?

Bei Hitze sind es rund 1000 Kalorien pro Stunde.

„Der Schutz der Haut ist immens wichtig“

Ist auch die direkte Sonneneinstrahlung ein Problem?

Natürlich, aber das gilt für alle Outdoor-Sportarten – und das auch schon bei 30 Grad. Der Schutz der Haut ist immens wichtig, zum Teil wird auch während der Wettkämpfe noch mal nachgecremt.

Kann man sich auf die Hitze vorbereiten?

Ja. Maximilian Schachmann ist zum Beispiel vor den Olympischen Spielen 2021 extra früher nach Tokio gereist, um sich dort akklimatisieren zu können. Und Tony Martin, der 2016 in Doha Weltmeister im Zeitfahren wurde, hat vorher in seinem beheizten Bad bei laufender Dusche auf der Rolle trainiert. Eines ist dabei allerdings zu berücksichtigen.

Was?

Der Effekt eines Hitze-Trainingslagers verpufft schnell wieder. Der Körper hat zwar eine sehr gute Anpassungsfähigkeit an hohe Temperaturen, nach zwei Wochen bei kühleren Bedingungen ist davon aber nichts mehr übrig. Angesichts des engen Rennkalenders ist es deshalb für Radprofis kaum möglich, sich auf eine Tour de France bei Hitze vorzubereiten – zumal ja auch niemand weiß, ob es während des Rennens dann auch wirklich extrem heiß wird.

„Das ist Ermessenssache“

Wie groß ist im Rennen der Vorteil eines Radprofis, der Hitze gut verträgt?

Das ist natürlich nicht messbar und sehr individuell, von bis zu zehn Prozent im Vergleich zu einem Fahrer, der bei Hitze nicht zurechtkommt, würde ich aber mal ausgehen. Allerdings gleicht sich das über eine Saison gesehen oft aus – denn auf der anderen Seite gibt es ja auch Fahrer, die sich auf Kälte oder Regen freuen.

Gibt es eine Regel, ab welcher Temperatur ein Radrennen nicht mehr gestartet werden darf?

Nein, das ist Ermessenssache, zumal es ja immer auch die Möglichkeit gibt, ein Rennen oder eine Etappe zu verkürzen oder den Startzeitpunkt zu verändern. Und die Temperaturen sind ja auch nicht das alleinige Kriterium: 32 Grad mit hoher Luftfeuchtigkeit können viel schlimmer sein als 40 Grad bei trockener Hitze.