Jonas Vingegaard zieht bei seinem Tagessieg auch seinem Konkurrenten Tadej Pogacar den Zahn. Foto: AFP/Marco Bertorello

Der Däne gewinnt die letzte Pyrenäen-Etappe und damit wohl auch die Tour de France 2022. Auch Simon Geschke wird ein Opfer der Gala in Gelb.

Der Radsport lebt schon immer von großen Duellen. Von epischen Zweikämpfen. Von der Auseinandersetzung Mann gegen Mann. Die Tour de France 2022 belegt diese These perfekt. Jonas Vingegaard und Tadej Pogacar liefern ein außergewöhnliches Spektakel, das am Donnerstag in der Schlussphase der letzten Pyrenäen-Etappe gipfelte – mit einem Sturz, einer großen Geste der Fairness und einer Attacke, nach der Jonas Vingegaard das Gelbe Trikot so gut wie sicher hat. Auch wenn am Samstag noch ein 40,7 Kilometer langes Zeitfahren ansteht.

„Es ist unglaublich. Dieser Sieg ist für meine Freundin und meine Tochter zu Hause“, sagte Vingegaard voller Stolz nach seinem zweiten Tageserfolg, wollte sich jedoch nicht gratulieren lassen: „Ich möchte noch nicht über den Gesamtsieg reden. Es gibt noch zwei Tage – lasst uns in Paris darüber sprechen.“

Tadej Pogacar versucht alles – vergeblich

Doch von vorne. Tadej Pogacar, das Triple vor Augen, wollte die letzte Chance nutzen, um vor dem Kampf gegen die Uhr seinen Rückstand von 2:18 Minuten zu verringern. Unentwegt attackierte der Slowene schon am Col de Spandelles, dem vorletzten Pass, den führenden Dänen, Bergsprint folgte auf Bergsprint – was viele Beobachter an die dunklen Zeiten des Radsports denken ließ.

Das Problem für Pogacar: Er wurde Vingegaard einfach nicht los, und dann wäre es auf der folgenden halsbrecherischen Abfahrt auch noch beinahe zum großen Drama gekommen. Erst bewahrten nur Glück und fahrerisches Können Vingegaard (25) vor einem Sturz, dann versteuerte sich Pogacar (23) und kam im Schotter am Straßenrand zu Fall. Bis er mit blutendem Knie und Schürfwunden am Oberschenkel wieder im Sattel saß, hätte Vingegaard längst angreifen können. Stattdessen wartete er auf seinen Konkurrenten. Pogacar bedankte sich per Handschlag für die Geste der Größe, danach beschlossen beide, es den Rest der Abfahrt ruhiger angehen zu lassen. Eine Tour soll sich schließlich auf dem Weg nach oben entscheiden. Und so kam es dann auch.

Am Schlussanstieg nach Hautacam zeigte sich wieder einmal, welche taktischen Möglichkeiten sich einem starken Team bieten. Wout van Aert, der Mann im Grünen Trikot des Punktbesten, war den ganzen Tag an der Spitze gefahren. Fünf Kilometer vor dem Ziel übernahm er für seinen von hinten kommenden Kapitän Vingegaard die Führungsarbeit – just in dem Moment, als den anderen Edelhelfer Sepp Kuss die Kräfte verließen.

Vingegaard liegt 3:26 Minuten vor Pogacar

Van Aert spannte sich vor das Super-Duo und machte das Rennen so schnell, dass Titelverteidiger Pogacar – womöglich durch den Sturz moralisch geschwächt – abreißen lassen musste. Kurz danach hatte van Aert seinen Job gemacht, Vingegaard erledigte den Rest im Alleingang. Er liegt nun 3:26 Minuten vor Pogacar, diesen Vorsprung wird er sich nicht mehr nehmen lassen. Zugleich übernahm Vingegaard, fast im Vorbeigehen, auch das Bergtrikot von Simon Geschke der mit seinen Kräften völlig am Ende war.

Als Geschke fast 34 Minuten nach Vingegaard ins Ziel rollte, hatte der Däne auf dem Podium gerade ein neues rot-gepunktetes Trikot übergestreift bekommen. So gnadenlos kann der Sport sein. Für Geschke waren die Hoffnungen auf den ganz großen Coup eigentlich schon vor dem ersten Megaanstieg dahin. Zunächst verpasste der 36-Jährige kurz nach dem Start im Wallfahrtsort Lourdes die Ausreißergruppe, dann verlief seine Aufholjagd erfolglos. Er kämpfte zwar und gab alles, um doch noch nach vorne zu kommen, letztlich aber war sein verzweifelter Versuch nicht von Erfolg gekrönt. Mit herausgestreckter Zunge gab Geschke schließlich noch vor dem Col d’Aubisque klein bei. Letztlich überholte Vingegaard (72) Geschke (64) und meinte: „Es ist nett, dieses Trikot gewonnen zu haben.“

Und wieder gewinnt kein Deutscher das Bergtrikot

An den restlichen drei Tour-Tagen werden nur noch drei Zähler vergeben, weshalb es dabei bleiben wird, dass noch nie ein Deutscher das Bergtrikot gewonnen hat. „Ich war selten so nervös vor einer Etappe und absolut am Limit“, sagte Geschke, „am Ende hat der Kampf um die Gesamtwertung eben auch die Bergwertung entschieden. Das ist schon bitter.“ Schmälert seine Leistung aber nur unwesentlich. Ein Duell gegen Jonas Vingegaard kann man schon mal verlieren.