Jutta Pagel-Steidl vom Landesverband für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung lässt sich in einem Hebetuch vom Lifter in der „Toilette für alle“ in die Höhe hieven. Der Oberbürgermeister Sebastian Wolf zeigt, in welche Richtung es gehen soll. Foto: Gottfried Stoppel

Eine speziell ausgestattete Toilette verhilft Menschen mit mehrfachen Behinderungen zu einem größeren Aktionsradius. Nun hat Waiblingen eine solche „Toilette für alle“ – die dritte im Landkreis.

Jutta Pagel-Steidl redet nicht drumherum. „Mit vollen Hosen kann man nicht teilhaben“, sagt die Geschäftsführerin des Landesverbandes für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung Baden-Württemberg. Deshalb setzt sie sich schon seit Jahren dafür ein, dass in Baden-Württemberg mehr sanitäre Einrichtungen geschaffen werden, die wirklich alle Menschen nutzen können – auch jene, für welche die üblichen Rollstuhltoiletten keine Option sind. Zum Beispiel an Multipler Sklerose Erkrankte, Querschnittgelähmte, Menschen mit einem Schädel-Hirn-Trauma oder schweren Behinderungen, die auf das Tragen von Windeln und somit auf Orte angewiesen sind, wo diese gewechselt werden können.

Rund 380 000 Betroffene in Baden-Württemberg

Das betrifft eine stattliche Zahl von Baden-Württembergern, der Landesverband geht von rund 380 000 Betroffenen aus. „Aber da redet keiner drüber“, sagt Jutta Pagel-Steidl, die das Tabuthema eben darum bewusst offensiv und „mit schwäbischem Charme“ angeht – auch wenn das bei manchen zu „Schnappatmung“ führe. Im Jahr 2015 sei ihr Verband von der damaligen SPD-Sozialministerin, der Waiblingerin Katrin Altpeter, beauftragt worden, das Thema voranzubringen, erzählt Jutta Pagel-Steidl. Sie macht das im Zuge des Projekts „Toiletten für alle“ und hat am Dienstag in Waiblingen die bislang dritte sanitäre Einrichtung dieser Art im Landkreis eröffnet.

Mindestens sieben Quadratmeter brauche es, um die Ausstattung einer solchen Toilette unterzubringen, erläutert Pagel-Steidl. In Waiblingen stehen sogar 15 Quadratmeter zur Verfügung, es gibt also reichlich Platz für die obligatorische Pflegeliege für Erwachsene, eine Kloschüssel, ein Waschbecken sowie den Patientenlifter, mit dessen Hilfe Rollstuhlfahrer aus dem Rollstuhl auf die Toilettenschüssel oder die Liege gehievt werden können. Auf Knopfdruck hebt oder senkt der Lifter den Nutzer im Hebetuch sanft nach oben oder unten, über eine bewegliche Schiene an der Decke lässt sich das gewünschte Ziel ansteuern. Ergänzt wird die Ausstattung durch einen luftdicht verschließbaren Windeleimer.

Der VfB Stuttgart musste erst überzeugt werden

Alles in allem Anschaffungen, die nicht sehr viel Geld gekostet hätten, sagt der Waiblinger Oberbürgermeister Sebastian Wolf: „Wir haben da mit einem überschaubaren Aufwand etwas geschaffen, was Teilhabe ermöglicht.“ Der Anstoß dazu sei von der FDP-Gemeinderatsfraktion gekommen. Weil das Land Baden-Württemberg 90 Prozent der Kosten übernimmt und in der Toilette im Familienzentrum Karo mit 15 Quadratmetern Platz keine großen Umbauten vonnöten waren, hat die Stadt nur rund Tausend Euro investieren müssen. Neben Kommunen und Kreisen können auch Organisationen, Vereine und Träger von öffentlich zugänglichen Einrichtungen wie Messen, Freizeitparks, Einkaufszentren oder Sportstätten von der Förderung profitieren.

„Wir gehen auf die Leute zu und suchen Lösungen je nach Budget“, sagt Jutta Pagel-Steidl, die nicht immer offene Türen einrennt, aber einen langen Atem hat. So sei etwa der Fußballverein VfB Stuttgart erst zögerlich gewesen, „aber wir haben sämtliche Fans mobilisiert“. Nun können alle dabei sein und die Spiele im Stadion genießen.

Landkreis verleiht mobilen Lifter

Die Waiblinger „Toilette für alle“ ist montags bis freitags von 8 bis 20 Uhr offen und bedeutet für manche Menschen ein Stück Freiheit, wie der Waiblinger Sebastian Fuchs schildert. Die neue Toilette im Karo bezeichnet er als „wunderbaren Einstieg“, auf die möglichst bald eine weitere im Bürgerzentrum folgen sollte. Denn wer keinen Ort habe, an den er im Falle eines Falles gehen kann, habe unterwegs keinen Spaß, sondern Stress: „Viele gehen deshalb gar nicht weg.“

Bis es flächendeckend „Toiletten für alle“ im Landkreis gibt, wird es wohl noch dauern. Immerhin bietet der Rems-Murr-Kreis Vereinen, Institutionen und Festveranstaltern die Möglichkeit, die Ausstattung einer solchen Toilette für ein Event auszuleihen. „Wir haben einen mobilen, akkubetriebenen Lifter und eine Klappliege angeschafft“, sagt Sebastian Eltschkner, der Behindertenbeauftragte (0 71 51/501 18 29; E-Mail: s.eltschkner@rems-murr-kreis.de).

Auf dieser Seite gibt es einen Überblick: www.toiletten-fuer-alle-bw.de

Wenn eine Rollstuhltoilette nicht ausreicht

Nutzer
Die „Toilette für alle“ können auch Menschen nutzen, für die eine Rollstuhltoilette nicht infrage kommt. Schätzungen gehen davon aus, dass dies allein in Baden-Württemberg rund 380 000 Menschen betrifft. Unter anderem profitieren von der „Toilette für alle“ beispielsweise Menschen mit einer Querschnittlähmung, Multipler Sklerose oder Menschen mit Mehrfachbehinderungen.

Ausstattung
 Die speziellen Toiletten, für die es keine gesetzliche Pflicht gibt, sind mit einer – nach Möglichkeit höhenverstellbaren – Pflegeliege für Erwachsene, einem Patientenlifter, einem Waschbecken und einem verschließbaren Windeleimer ausgestattet.  Die Toilette muss mindestens sieben Quadratmeter groß sein.

Finanzierung
Baden-Württemberg ist das einzige Bundesland, das seit dem Jahr 2016 die Ausstattung solcher Toiletten fördert, und zwar übernimmt das Land 90 Prozent der Kosten, maximal wird eine Summe von 12 000 Euro gezahlt.

Standorte
Im Landkreis ist die im Waiblinger Familienzentrum Karo eröffnete Toilette die dritte ihrer Art. Weitere gibt es am Ebnisee in Kaisersbach und am Limes in Großerlach-Grab.