Die Missbrauchsopfer haben sich zusammengeschlossen. Foto: dpa

Die Evangelische Brüdergemeinde Korntal muss dieser Tage auf intensive Begebenheiten reagieren. Ihr Handeln zeigt deutlich den Umbruch auf, dem sie sich stellen muss.

Im Schwimmbad. Kinder haben gemeinsam Spaß. Und plötzlich ist ein Junge tot. Der Sechsjährige befindet sich zu dem Zeitpunkt in der Obhut der Jugendhilfe Korntal, nimmt mit andern Kindern an einem Angebot im Schwimmbad der Diakonie der Brüdergemeinde teil.

Dann ist da dieser eine Moment. Niemand weiß, was geschehen ist. Auch die Obduktion des Kindes bringt keine Klarheit über die Todesursache. Die Ermittlungen der Polizei dauern an. Familie, Klassenkameraden, Betreuer – sie bleiben zurück mit ihren Fragen, auf die es keine Antwort gibt. Die Diakonie jedoch, verantwortlich für Angebot und Hallenbad, muss auch in dieser Situation Worte finden. „Die Geschäftsführung und alle Mitarbeitenden unserer Diakonie sowie die Verantwortlichen und Mitglieder der Evangelischen Brüdergemeinde Korntal sind schockiert und traurig darüber, dass ein sechsjähriges Kind in einer unserer Einrichtungen zu Tode kam“, teilt sie mit.

Deutliche Reaktionen auch auf einen Film

Andreas Wieland steht seit rund einem Jahr an der Spitze einer Diakonie von der Größe eines mittelständischen Unternehmens. Er hatte den Job angenommen, wohl wissend um die schwierige Situation, in der sich die Diakonie befindet. Ein Umbruch hatte sich schon damals abgezeichnet. Doch selten ist er so deutlich zu Tage getreten, wie in diesen Wochen.

Anteil daran hat der Film „Die Kinder aus Korntal“ über den Missbrauchsskandal bei der Brüdergemeinde. Kinder und Jugendliche erlitten in den Heimen der pietistischen Gemeinde zwischen 1950 bis 1980 psychische, physische – auch sexuelle Gewalt, Vergewaltigungen. Mehr als hundert Fälle sind dokumentiert. Täter waren Betreuer, Lehrer, Hausmeister, Gemeindeglieder.

Regisseurin Julia Charakter hat daraus einen 90-minütigen Film gemacht. Darin kommen frühere Heimkinder und Vertreter der Brüdergemeinde zu Wort. Ende September kam der Dokumentarfilm in die Kinos, seine zurückhaltenden Bilder entfalten ihre Wirkung: Sie verstärken die Schilderungen der ehemaligen Heimkinder und provozieren emotionale Reaktionen des Publikums. Die Brüdergemeinde reagiert mit mehreren offenen Briefen, an die eigene Gemeinde, an die Regisseurin und an aktuelle Mitarbeiter. Gegenüber den ehemaligen Heimkindern äußert sie sich empathisch. „Dass dies geschehen konnte, schmerzt uns immer wieder neu.“ Der Regisseurin Julia Charakter aber schreibt sie: „Gerne hätten wir uns eine stärkere inhaltliche Einbeziehung während der Entstehung des Filmes gewünscht.“ Die Gemeindeleitung hält ihr zudem vor, „Historie und Gegenwart nicht klar voneinander getrennt“ zu haben. Alles in allem werde der Film dem Anspruch, Dokumentarfilm zu sein, nicht gerecht, schlage vielmehr in die Kerbe der Kirchenschelte.

Die Brüdergemeinde – ein Opfer der Regisseurin? Tatsächlich prägen die Opfer der Gemeinde den Film, mit dem die Gemeinde ihre Deutungshoheit verliert. Ihr bleibt, darauf zu reagieren. „Schweigen ist die falscheste Reaktion“, sagt Diakonie-Geschäftsführer Wieland auch über den Umgang mit diesem Kapitel der Diakonie-Historie.

Es müssen Worte für das Handeln gefunden werden

Tatsächlich muss nicht nur die Diakonie, sondern auch die Brüdergemeinde als deren Gesellschafter mehr denn je erklären, muss Worte finden für ihr Handeln. Das fußt damals wie heute auf dem Glauben der pietistischen Gemeinde. Doch als modernes Unternehmen mit 540 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von 32 Millionen Euro muss es zugleich transparent sein, um im Wettbewerb zu bestehen.

Über Jahrzehnte war die Diakonie eher im Stillen gewachsen, agierte entsprechend selbstbewusst als Solitär. Schließlich hatte sie zwei Kinder- und Jugendheime, ambulante Tagesgruppen, ein Altenpflegeheim, einen Schulbauernhof und mit der Johannes-Kullen-Schule ein Sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum aufgebaut. Ein anerkannter, vergleichsweise großer Jugendhilfeträger im Landkreis entstand, finanziell nicht zuletzt durch Immobilienbesitz abgesichert.

Detlev Zander hat die Missbrauchsfälle vor zehn Jahren publik gemacht. Foto: Simon Granville

Inzwischen nutzt sie jedoch nicht mehr alle Gebäude selbst, hat Räume auch an einen Kinderarzt vermietet. Diese Öffnung in die bürgerliche Gemeinde hinein ist nicht völlig neu, die Vermietung an den Arzt gleichwohl das jüngste Zeichen eines von äußeren Faktoren erzwungenen Wandels. „Die Diakonie muss sich ein Stück weit neu erfinden“, hatte Geschäftsführer Wieland bei seinem Amtsantritt gesagt.

Bundesweite Diskussion innerhalb der Diakonie Deutschland

Tatsächlich war die Diakonie in ihren Strukturen über Jahre unverändert, auch Verträge etwa mit der Stadt waren lange unverändert geblieben. Nun kamen Fachkräftemangel und die landesweit prekäre Situation in der Kinder- und Jugendhilfe dazu. Die Diakonie, bisher aus sich heraus allein stark, ist seither zu Kooperationen gezwungen. Zumal die bundesweite Diskussion innerhalb der Diakonie Deutschland über Entschädigungszahlungen für Opfer sexueller Gewalt auch auf Korntal durchschlagen wird.

„Für uns hat die Aufarbeitung von Fällen sexualisierter Gewalt in unseren Einrichtungen höchste Priorität. Dazu gehört, Unrecht und Gewalttaten an Kindern und Jugendlichen schonungslos und konsequent aufzudecken. Der Film ‚Die Kinder aus Korntal’ leistet dafür einen wichtigen Beitrag“, teilt die Diakonie Deutschland in Berlin mit. Vorständin Maria Loheide hatte den Film gesehen. Ihre Reaktion war deutlich. „Für die Diakonie ist es extrem bedrückend, dass in Korntal nicht mehr Einsicht da ist.“

Ein langes Telefonat zwischen Berlin und Korntal war die Folge. Wieder sprach Geschäftsführer Wieland für ein modernes Sozialunternehmen, das von seiner Historie eingeholt wurde. „Meine Erwartungshaltung wäre gewesen, dass sich die Brüdergemeinde von den historischen Tätern distanziert“, sagt die Regisseurin Julia Charakter. Das bleibe aus, kritisiert auch Detlev Zander. Er, ein ehemaliges Heimkind in der Obhut der pietistischen Gemeinde, hatte den Missbrauchsskandal 2014 öffentlich gemacht. Auch sein Leben ist nun Teil des Films. Dieser solle „der Mahnung dienen“, sagt Zander.

Zander hat mehrfach bekräftigt, nicht zu schweigen, ehe sich die Diakonie mit externer, nicht-kirchlicher Expertise neu strukturiert hat. Präventiv. Um Historie und Gegenwart klar voneinander zu trennen.