Normalerweise wird im Kaisersaal des Esslinger Amtsgerichts Recht gesprochen. An diesem ebenso illustren wie geschichtsträchtigen Ort führte das Theater Lindenhof am Donnerstag Heinrich von Kleists Lustspiel „Der zerbrochne Krug“ auf.
EsslingenDer Kaisersaal des reichsstädtischen Rathauses war für Esslingen im 18. Jahrhundert der Nabel der Welt. Sein prachtvolles Deckengemälde gilt der Apotheose einer Reichsstadt, die ihren Zenit da bereits überschritten hatte. Heute befindet sich hier der Gerichtssaal des Amtsgerichts. An diesem ebenso illustren wie geschichtsträchtigen Ort führte das Theater Lindenhof am Donnerstag Heinrich von Kleists Lustspiel „Der zerbrochne Krug“ auf.
Inszeniert von Franz Xaver Ott als Schwank mit Hintersinn, nahm der Ort ganz von selbst Bezug zur Realität auf. Die Tische am Kopfende, die sonst durch das Gericht und die Prozessparteien genutzt werden, dienten als Kulisse. Ungeniert machte sich die Schauspielerriege darin breit und ergänzte sie durch Kostümständer und Garderoben. Um Punkt 20 Uhr, nachdem sich die Reihen komplett mit erwartungsvollen Zuschauern gefüllt hatten, begann ein aberwitziges Spiel um Lüge und Wahrheit, bei dem Justitia vor Entsetzen die Waage aus der Hand fallen würde.
Die Kostüme der Schauspielerinnen und Schauspieler des Melchinger Theaters Lindenhof ließen mit ihren Pullundern, Leggings und Jeanswesten den Schick der 70er- und 80er-Jahre wieder aufleben. Die Sprache jedoch blieb den Blankversen des 1808 uraufgeführten Stückes weitgehend treu. Aufpoliert, entstaubt und in die Umgebung eines realen Gerichts versetzt, wirkt das Geschehen überraschend aktuell. Es wäre zu viel gesagt, die Zuschauer als Komplizen zu bezeichnen. Dennoch befinden sie sich in Ermangelung einer Bühne auf der gleichen Ebene wie der Dorfrichter Adam – grandios gespielt von Bernhard Hurm.
Was hat der schwitzende, blutüberströmte Knilch in seinem wattierten grünen Anzug zu verbergen? Warum betont eine einzige rote Socke, dass ihm die zweite fehlt? Und warum beharrt er stur auf der Behauptung, seine Allongeperücke sei ihm abhandengekommen, weil die Katze darin gejungt habe? Mehr und mehr verstrickt sich der Richter in Widersprüche und verfängt sich in seinem eigenen Ränkespiel. Nachdem ihn sein pedantischer Gerichtsschreiber Licht (Karlheinz Schmitt) auf die Defizite seiner Erscheinung hingewiesen hat, kommt es knüppeldicke für Adam. Ausgerechnet heute hat sich der Gerichtsrat Walter (Martin Olbertz) angekündigt, um ihm auf die Finger zu schauen. Die erste Verhandlung am Gerichtstag steht an.
Händeringend und lamentierend sucht die Witwe Marthe (Carola Schwelien) den Übeltäter, der ihren heiß geliebten Tonkrug zerbrochen hat. In der Kunst dient dieses Corpus Delicti oft als Synonym für die verlorene Ehre einer Frau. So auch hier, denn der Missetäter hatte sich in die Kammer ihrer Tochter Eve (Kathrin Kestler) geschlichen, die seine Identität partout nicht preisgeben will. Dafür setzt sie sogar ihre Verlobung mit Ruprecht (Luca Zahn) aufs Spiel, der sich in der Nacht ein Handgemenge mit dem Eindringling geliefert hat. Identifizieren kann auch er ihn nicht, und Eve schweigt eisern. Zum Schluss versteigt sich die Zeugin Brigitte (Ronja Schweikert) zu der Behauptung, ein klumpfüßiger Teufel habe im Garten sein Unwesen getrieben und seine Perücke im Weinstock verloren.
Wie die Verhandlung ausgeht, dürfte den meisten Zuschauern im Kaisersaal klar gewesen sein, zu sehr hatte sich der Richter in Widersprüche verstrickt. Wenn Eve zum Schluss wie die Liberté der französischen Revolution auf den Tisch springt und ihre Wahrheit verkündet, ist nicht nur ihre Ehre wiederhergestellt, sondern auch der Lauf der Welt. Die kleinen Leute haben Gerechtigkeit erfahren.
„Der zerbrochne Krug“ ist ein Klassiker der deutschen Dramenliteratur, heiß geliebt, wiederholt verfilmt und als Schullektüre gefürchtet. Die Inszenierung des Theaters Lindenhof beweist, wie leicht sich der Stoff als unterhaltsames Possenspiel gestalten lässt. Kleist selbst hat den Personen ihre Konflikte auf den Leib geschrieben und die Zuspitzung als Schlagabtausch zwischen Obrigkeit und einfachem Volk gestaltet, der, versetzt in eine heutige Umgebung, nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat. Zum Schluss bedankte der Direktor des Amtsgerichts, Andreas Arndt, sich für diese fulminante Inszenierung und lud die Zuschauer ein, sich das Deckengemälde genauer erklären zu lassen.