Die Stimmen der Holocaust-Überlebenden Éva (v. li.): Jule, Rosa, Sky, Caro und Cosima. Foto: Martin Haar

Fünf junge Darstellerinnen des Ensembles Lokstoff verleihen mannshohen Porträts von Holocaust-Überlebenden im Stück Gegen das Vergessen neue Kraft und Leben. Sie erzählen das Schicksal von Éva, die Auschwitz überlebte und 56 Jahre darüber schwieg.

Stuttgart - Éva hat 59 Jahre nicht darüber gesprochen. „Weil ich einfach dazu nicht fähig war“, wie sie sagt, „die Schicht meiner Seele war zu dick.“ Dann aber kämpften sich die Erinnerungen hoch. Éva sprach wie ein Wasserfall und hat seitdem nicht mehr aufgehört über die Schrecken der Shoah zu berichten.

Éva (96) wird am 22. Oktober 1925 in Debrecen in Ungarn geboren. Nach der Besetzung Ungarns im Frühjahr 1944 durch die deutsche Wehrmacht, wird die 18-Jährige mit ihrer acht Jahre jüngeren Schwester und ihrer großen Familie erst im jüdischen Ghetto interniert und von dort im Juni `44 nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Sie überlebt als einzige ihrer Familie das Lager, weil sie zur Zwangsarbeit in der Münchmühle, einem Außenlager des KZ Buchwald selektiert wird. Im März 1945 kann sie sich auf einem Todesmarsch verstecken und wird von den Amerikanern befreit.

75 Jahre ist das nun her, doch an diesem Mittwoch erfüllt sich Évas Hoffnung, deren neue Sprache inzwischen auch ihr gütig-warmer Blick ist. Sie hofft, dass diese dunkle Zeit mit all ihren Schrecken eine Mahnung für nachfolgende Generationen bleibt. Dass sie bei jungen Menschen ankommt und verbreitet wird.

Multimediales Erinnerungsprojekt

Tatsächlich tragen junge Menschen ihre Botschaft nun weiter. Mehr noch: Sie (ver-)leihen Éva, die heute in Ungarn lebt, ihre Stimme. Bei dem multimedialen Erinnerungsprojekt des Fotografen Luigi Toscano und dem Ensemble Lockstoff „Gegen das Vergessen“ erzählen Jule (17), Rosa (15), Sky (16), Caro (21) und Cosima (18) die Geschichte(n) hinter dem Sichtbaren. Sie und andere aus dem Lokstoff-Jugendensemble erzählen vor den mannshohen Toscano-Porträts der 400 Überlebenden Geschichten des Leidens, der Erniedrigung und der Verluste. Freilich alles mit dem einen Gedanken, der sich in zwei Worte fassen lässt: Nie mehr!

„An die Jugend gerichtet sage ich: Ein großes Übel der Welt ist die Unwissenheit“, sagt Éva, „wer keine Kenntnisse und keine Werte hat, dem kann man alles mögliche glauben machen, denn er weiß nicht, was die Wahrheit ist, er kennt die Fakten nicht.“ Aber selbst die Fakten haben oft keine durchschlagende und memorierende Kraft. Fakten sind kalt und blutleer. Sie wandern ins Hinterzimmer des Gehirns. Genau so haben es die fünf Éva-Darsteller erlebt. Unisono berichten sie: Die Faktenvermittlung in der Schule mache das Grauen, das Unvorstellbare, den Völkermord an sechs Millionen Juden nicht greifbar. „Im Unterricht lernten wir Zahlen, hatten aber keinen Bezug zu den Schicksalen und damit kaum Emotionen“, sagt Jule. Auch für Rosa war der Zweite Weltkrieg und die Shoah bisher sehr „abstrakt“. „Aber inzwischen verbinden wir damit ein persönliches Schicksal“, sagt Sky, „eine Person.“ Jetzt sei der Holocaust nicht mehr so weit und fern, wie etwa andere Genozide oder die Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Chinesen an den Uiguren, sondern ganz nah. Und daher fragt sie sich betroffen: „Wie kann man sich so etwas überhaupt ausdenken? So kann man doch nicht handeln!?“

Kurzer Weg in die Barbarei

Dass die Schritte aus der Zivilisation in die Barbarei manchmal sehr klein sein können, erleben die fünf Darsteller inzwischen sehr bewusst – und das fast täglich. Ob es sich um die jüngsten Hakenkreuz-Schmierereien am Taro-Platz handelt oder den Brandanschlag auf die Ulmer Synagoge in der vergangenen Woche: Antisemitismus ist allgegenwärtig und keine Randerscheinung. „Mir macht das richtig Angst“, sagt Cosima, „deshalb liegt es in unserer Verantwortung antifaschistisch zu handeln. Deshalb ist das Stück so wichtig.“ So tickt auch Jule. Aus ihrer Sicht tun Erinnerung und Aufklärung Not: „Vielleicht haben die Leute, die Hakenkreuze hinschmieren, kaum Wissen über deren Bedeutung und noch weniger Kenntnis darüber, wie so etwas andere verletzt.“

Und hier kommt die Kunst ins Spiel. „Kunst kann berühren“, sagt Lokstoff-Mitbegründerin Kathrin Hildebrand, „diese Kombination aus starken Bildern und jungen Menschen werden Emotionen auslösen. Sie sind etwas unglaublich Bewegendes“. Die Texte – ohne Pathos vorgetragen – und die Bilder von Toscano schaffen aus ihrer Sicht neue Zugänge in die Herzen des Publikums. Die Wirkung auf ihre Herzen beschreiben Jule, Rosa, Sky, Caro und Cosima so: „Inzwischen fühlen wir uns mit Éva innig verbunden. Wir fühlen ihre Geschichte mit.“ Und sie sagen: „Es ist uns eine Ehre, dass wir ihre Geschichte verkörpern dürfen.“ Éva erfüllt das mit Freude und Stolz. Daher wünscht sie den Aufführungen im Hospitalhof und den jungen Darstellerinnen „aus vollem Herzen viel Erfolg“. Natürlich weil das Stück einen Beitrag gegen das Vergessen leistet. Aber auch weil Jule, Rosa, Sky, Caro und Cosima ihr Menschenbild bestätigen, dass sie trotz des Schreckens und nach ihrem 56-jährigen Schweigen bewahrt hat: „Grundsätzlich bin ich überzeugt, dass die Menschen gut sind. Nur: Man muss sie so erziehen. Dann wird die Welt schön.“