Die Strafen bei sexuellem Missbrauch sind teilweise niedriger als bei Steuerhinterziehung. (Symbolbild) Foto: imago images/onemorepicture/onemorepicture / Alexandra Michel

Sollte er den sexuellen Missbrauch an seiner Enkelin gestehen, stellten die Richter einem 60-Jährigen aus Welzheim nun eine Strafe unter sechs Jahren in Aussicht. Sechs Jahre für ein zerstörtes Leben – was läuft falsch in unserem Rechtsstaat? Ein Kommentar.

Über 150 Mal soll der in Welzheim wohnhafte Großvater laut der Anklage des Landgerichts Stuttgart seine Enkelin vergewaltigt haben. In dem Zeitraum des sexuellen Missbrauchs war das Mädchen zwischen zehn und 13 Jahre alt (wir berichteten).

Steht der 60-Jährige zu seinen Taten, könnte er mit einer Haftstrafe unter sechs Jahren davonkommen. Das betroffene Mädchen leidet seitdem an Angstzuständen, Schlafproblemen und Suizidgedanken. Sechs Jahre für ein Menschenleben – ist das angemessen?

Bei guter Führung können Straftäter auch eine Haftverkürzung erreichen. Dann stünde der Großvater vielleicht auch schon mit 64 Jahren wieder in einem Supermarkt seinem Opfer gegenüber. Diese Höhe der Haftstrafe bei Opfern sexuellen Missbrauchs ist nicht unüblich in Deutschland. Es gibt zahlreiche Fälle, in denen die Täter zwischen vier und sechs Jahren Haft bekommen. Die Opfer, Kinder, sind hingegen ein Leben lang gezeichnet. So gab wurde ein Azubi 2018 wegen sexuellen Missbrauchs von Kleinkindern in einer privaten Kita in Schwieberdingen bei Ludwigsburg (Az.: 4 KLs 42 Js 24903/18) zu fünfeinhalb Jahre Haft verurteilt. Ein ehemaliger Pfarrer einer Christengemeinschaft wurde am 13. November 2024 vom Landgericht Frankfurt zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und zwei Monaten wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen und sexueller Nötigung verurteilt.

Der 25 Jahre alte Angeklagte wurde wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in 55 Fällen sowie wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 23 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und 3 Monaten verurteilt. Die Taten spielten sich in Friedrichshafen und Hagnau am Bodensee ab – das Kind war zu Beginn der Tat acht Jahre und am Ende zehn Jahre alt. Die Mutter des Opfers überließ dem Täter die Tochter für die Taten. Wegen Beihilfe erhielt sie eine Haftstrafe von etwas mehr als fünf Jahren.

Steuerhinterzieher erhalten teilweise höhere Strafen als Kinderschänder

Vergleicht man diese Urteile mit Verfahren rund um Steuerbetrug, fällt auf, dass bei Steuerhinterziehung nicht selten höhere Haftstrafen ausgesprochen werden als bei Kindesmissbrauch. In Düsseldorf wurden beispielsweise Ende Oktober fünf Autoschieber wegen millionenschweren Steuerbetrugs zu mehreren Jahren Haft verurteilt. Der Hauptangeklagte aus Erkrath wurde vor dem Landgericht Düsseldorf zu sechs Jahren und zwei Monaten Gefängnis verurteilt.

Im Mai 2024 verurteilte das Landgericht Oldenburg einen ehemaligen Manager des Möbelkonzerns Steinhoff wegen Steuerhinterziehung in Millionenhöhe zu sechs Jahren Haft. Weil die Ermittlungen nach Ansicht des Gerichts zu lange gedauert hatten, musste der 65-Jährige aber nur für vier Jahre ins Gefängnis. Das Landgericht Darmstadt verurteilte im September einen 45-Jährigen in über 900 Fällen der Steuerhinterziehung. Er half demnach dabei, rund elf Millionen Euro an Biersteuern abzuzweigen. Dafür erhielt er eine Haftstrafe von fünf Jahren und drei Monaten.

Kinder brauchen einen besonderen Schutz

Das Problem ist nicht selten die Beweislage: Während es oft zahlreiche Dokumente gibt, die einen Steuerbetrug belegen, gibt es selten Videomaterial, das den sexuellen Missbrauch zeigt. Hier steht in vielen Fällen Aussage gegen Aussage. Nicht selten sprechen Richter dann ein „Kompromissurteil“ aus, um den Fall abzuschließen. Dennoch darf man nicht vergessen, dass die Opfer bei sexuellem Missbrauch in der Regel Kinder sind. Kinder gehören in besonderem Maße geschützt. Dennoch hapert es noch immer an allen Ecken und Enden in unserem Rechtsstaat – unter anderem bei der Instanbul-Konvention, die vor einem Jahr europaweit in Kraft trat und einen besseren Schutz für Frauen und deren Kindern bei häuslicher Gewalt versprach. Noch immer gibt es jedoch zahlreiche Urteile an deutschen Familiengerichten, die Frauen diffamieren, wenn sie über häusliche Gewalt sprechen. Kinderschutz? Fehlanzeige.

Auch während Corona wurden Kinder nicht adäquat geschützt

Auch während der drei Corona-Pandemie-Jahre wurden in Deutschland – wie in keinem anderen Land – die Schulen konsequent über Wochen geschlossen, Familien teils überfordert mit der Situation allein gelassen. Bereits damals kritisierten Wissenschaftler die Verordnungen. Und auch heute gibt es diverse Studien, die das Ausmaß zeigen, das die Schließungen hinterlassen haben bei Kindern: psychische Auffälligkeiten, Angstzustände, das Gefühl ständiger Überforderung.

Nein, Deutschland ist kein Kinderland. Aber es gibt immer die Chance, Dinge zu ändern, etwa mit Urteilen, die verdeutlichen, welche Bedeutung ein Kinderleben hat – im Vergleich zu einem Steuerverlust, den der Staat wegen Betrügereien hinnehmen muss. Man muss sich dabei lediglich eine Frage stellen: Was wiegt mehr?