Bad Uracher Wasserfall-Romantik: Heimspiel für Cem Özdemir. Foto: StZ Magazin/Dirk Bruniecki

Nicht nur für politische Herzensprojekte nimmt Cem Özdemir auch beschwerliche Gänge auf sich. Eine Interview-Wanderung mit dem früheren Grünen-Bundesvorsitzenden im Nieselregen – in seiner Heimat Bad Urach.

Stuttgart - Bad Urach, 8 Grad, Nieselregen: Feinstes Fritz-Walter-Wanderwetter, Heimspiel für Cem Özdemir. Auf dem Weg zum Uracher Wasserfall erzählt der 54-Jährige vom Sportlehrer, der die Schüler den Wanderweg joggend zurücklegen ließ. Der Vorsitzende des Verkehrsausschusses des Deutschen Bundestags zeigt die Stelle, an der er und seine Mitschüler heimlich abkürzten, ohne sich dabei erwischen zu lassen.

Großes Hallo kurz vorm Wasserfall: ein Fangirl spricht Özdemir an: „Ich seh‘ Sie immer im Fernsehen.“ – „Ach Sie sind das, die zuschaut. Nächstes Mal winke ich.“ Egal, wie oft er diesen Spruch schon gebracht hat, die Dame lacht sich schlapp. Özdemir hört heraus, dass sein Fan iranischer Herkunft ist und schaltet auf Farsi um, während die Wandersfrau ihre Türkisch-Kenntnisse bemüht. Völkerverständigung unter dem schwäbischsten aller Wasserfälle.

Oben angekommen, fühlt sich der ehemalige Bundesvorstand der Grünen an eine Verfilmung von „Der letzte Mohikaner“ mit Daniel Day Lewis in der Hauptrolle erinnert. Özdemir trumpft auf mit einer detailreichen Inhaltsangabe: Chingachgook, Falkenauge und Uncas springen einen riesigen Wasserfall herunter, verfolgt von den Huronen.

Die Szene wollen wir natürlich sofort mit Özdemir nachstellen! Will er aber leider nicht, ansonsten macht er für den Fotografen aber jede noch so rutschige Kletterpartie mit. Zum Glück hat er kurz vor dem Wander-Interview noch die Kletterschuhe bei seiner Mutter abgeholt, die immer noch in Downtown Bad Urach lebt. Diktiergerät läuft: Los geht’s mit dem Wandervogel-Talk.

Herr Özdemir, wieso sind Sie bei der Oberbürgermeisterwahl in Stuttgart nicht selbst ins Rennen gegangen? Bei Ihrem biografischen Hintergrund hätte es doch die ideale Aufgabe für Sie sein können, in einem bunten Stuttgart für Aufbruchsstimmung zu sorgen.

Zunächst einmal ist Stuttgart eine tolle Stadt. Ich bin stolz, sie im Bundestag zu vertreten. Da gibt es 1000 Anknüpfungspunkte, gerade auch im Verkehrsausschuss, dem ich vorsitze. Wir in Stuttgart können die Herausforderungen der Verkehrswende vor Ort wie unter einem Brennglas beobachten: Die Transformation der Autoindustrie als Garant für Wohlstand in der -Region treibt viele Menschen um. Für eine zuverlässige und schnelle Bahn streiten wir Stuttgarter ja ohnehin gerne, und natürlich geht es auch um sichere Radwege und weniger Autos für attraktivere Innenstädte. Wenn es nach dem einen oder anderen Kollegen der CDU- oder der FDP-Fraktion geht, könnte man mit dem Auto bis vor die Ladenkasse fahren. Dabei muss man nicht besonders intelligent sein, um zu sehen, dass das Gewerbeaufkommen bei weniger Autos zu- und nicht abnimmt – das sehen wir in Madrid und London, die damit gerade gute Erfahrungen machen.

Was verbindet Sie sonst mit Stuttgart?

Im Bad Urach meiner Jugend gehörte es zu den Highlights, nach Stuttgart zu fahren, in die „Lerche“. Davor hatte man genug Geld zusammengekratzt, damit es für eine Schallplatte reichte.

Und was haben Sie dann gekauft?

Ich war schon eher rockmäßig unterwegs. Meine erste Schallplatte war „Watch“ von Manfred Mann’s Earth Band.

Was hat Sie damals außerdem noch nach Stuttgart geführt?

Meine allererste Demo war in Stuttgart, irgendwas mit Solidarität mit Mittelamerika. Wir sind hingetrampt. Bis wir ankamen, war die eigentliche Demo schon zu Ende. Aus dem Zug heraus hatte sich ein Teil gelöst: Die trugen Masken und gingen vors amerikanische Konsulat, das es damals noch gab, und irgendwann flogen Farbbeutel in Richtung Konsulat. Ich konnte meine Handballtorwartkünste einsetzen, um nicht getroffen zu werden. Die Farbbeutel landeten bei den eigenen Leuten, die vorne standen.

Haben Sie mit der Wurfhand ausgeholfen?

Nein, das war mir zu blöd. Mein kurzer Ausflug in die Welt außerhalb des legalen Demonstrierens war schnell beendet. Zu Hause haben wir die Erlebnisse etwas aufgehübscht – man wollte ja nicht als Langweiler zurückkommen, der die wahre Demo verpasst hatte. Heute frage ich mich, ob es Videoaufzeichnungen gibt, wie ich da erstaunt am Rande stehe, nach dem Motto: Was machen die hier gerade?

Haben Sie in Berlin manchmal Sehnsucht nach der schwäbischen Heimat?

In Bezug auf Urach habe ich mittlerweile eine gewisse Altersmilde entwickelt. Als ich im Rahmen meiner Erzieherausbildung von Urach wegkonnte, war ich nicht undankbar. Mittlerweile motiviere ich meine Kinder, dorthin zu kommen, und erzähle ihnen, was ich für eine paradiesische Kindheit hatte. Außerdem ist meine Mutter heute eine patriotische Bad Uracherin. Wenn jemand was gegen die Stadt sagt, dann gibt es Ärger.

Apropos Ärger: Wie sehr hadern Sie noch mit Christian Lindner? Hätte der die Jamaika-Verhandlungen 2017 nicht beendet, wären Sie jetzt vielleicht Außenminister.

Manchmal klopft die Geschichte an deine Tür an. Dann bist du entweder da oder du schnarchst. Anscheinend hatte er Besseres zu tun, als Deutschland zu regieren. Den Rest kann man jetzt in Umfragen nachlesen.

Klingt immer noch nach Wehmut.

Ich habe nie vergessen, wo ich herkomme. Es hat mir keiner an der Wiege gesungen, dass ich mal mit der Bundeskanzlerin über die Zukunft der Republik verhandle. Insofern bin ich dankbar, dass ich als Kind aus einer türkischen Gastarbeiterfamilie meine Partei in den Wahlkampf und anschließend in die Sondierungen führen durfte. Ich will auch nicht um den heißen Brei herumreden: An mir ist es nicht -gescheitert. Ich hätte gerne regiert. Ich will Dinge verändern.

Also würden Sie auf die Frage, ob Annalena Baerbock oder Robert Habeck den besseren grünen Kanzler abgäben, entspannt mit „Cem Özdemir“ antworten?

Nein. Das Ob und Wer sollen die zwei unter sich ausmachen. Ich habe die Partei zehn Jahre gerne geführt, jetzt machen Robert und Annalena das. Aber ich will gerne dabei mithelfen und anschließend vorne mitanpacken. Wir Grüne können es anders machen als das jetzige Bundeskabinett und die Vielfalt der Gesellschaft abbilden. Ansonsten treibt mich die Auseinandersetzung mit den Feinden unserer Demokratie um, den Feinden von innen wie von außen. Rechtsextreme greife ich dort an, wo es ihnen am meisten wehtut, indem ich sage: Ihr seid nicht die Mehrheit und vertretet unser Land nicht.

Der Preis, den Sie für Ihre Positionierung gegen rechts, aber auch gegen Erdoğans Regime in der Türkei zahlen, ist hoch. Ohne Personenschutz sind Sie in der Öffentlichkeit kaum anzutreffen.

2007 habe ich in der Türkei einen sehr guten Freund verloren, Hrant Dink, zu dem ich aufgeschaut habe. Der Chefredakteur der einzigen armenischen Zeitung der Türkei wurde von einem 16-jährigen Jungen ermordet, den man aufgehetzt hatte. Die beste Strafe, die man den Auftraggebern dieses Mordes zuteilwerden lässt, ist es, die Ideen von Hrant Dink und allen anderen, die sich Nationalismus und religiösem Fanatismus entgegenstellen, weiterzutragen. Sie haben aber recht: Die Situation war leichter, als ich noch Junggeselle war und keine Kinder hatte. Aber wissen Sie, wo ich vor unserer Wanderung war?

Verraten Sie es uns.

Ich habe eine Ordensschwester in ihrem Kloster besucht. Die hatte von den Drohungen gegen mich gelesen und mir einen sehr herzlichen Brief geschrieben. Daraus hat sich eine veritable Brieffreundschaft entwickelt. Sie betet für mich. Das berührt mich sehr.

Göttlicher Beistand kann nie schaden, gerade derzeit. Bei Erdoğan, Ihrem Lieblingsgegner neben der AfD, helfen Stoßgebete aber auch nicht mehr.

Da geht es um ein ganzes Land, um Existenzen, die zerstört werden. Wenn mich die Erdoğan-Trolle im Netz damit ärgern wollen, dass ich nicht mehr in die Türkei einreisen darf, antworte ich einfach: Doch, doch, ich werde kommen – zur Gerichtsverhandlung gegen Erdoğan, um zu schauen, dass er ein faires, rechtsstaatliches Verfahren bekommt, um zu zeigen, dass wir nicht die Methoden derer übernehmen, die wir kritisieren. Dabei versuche ich, den Trollen liebenswürdig zu schreiben, nach dem Motto: Die Liebe, die du in deiner Kindheit nicht erfahren hast, wünsche ich dir jetzt. Da zahlt sich der evangelische Religionsunterricht aus meiner Realschulzeit aus.

Wieso haben Sie sich eigentlich die deutsche Fahne in Ihr Büro gestellt?

Als ich mit 18 Jahren den deutschen Pass bekam, habe ich eine riesige Party veranstaltet, während meine linksliberalen Freunde mich dafür bedauerten. Die Fahne, die für mich immer zusammengehört mit der EU-Fahne, ist für mich ein Symbol unserer liberalen Demokratie und unseres freiheitlichen Rechtsstaats. Niemand muss sich eine Fahne ins Büro stellen, aber für mich steht sie für all das, was die Typen von der AfD verachten. Das ist das Symbol für unser offenes und vielfältiges Deutschland, will ich denen sagen, das gehört euch nicht.

Wo haben Sie Ihre Fahne her?

Ich habe meinen Freund und Vorsitzenden-Kollegen Norbert Röttgen von der CDU gefragt: Wieso hast du Flaggen im Büro und ich nicht? Ich bin doch auch Ausschussvorsitzender! Am nächsten Morgen standen in seinem Besprechungszimmer zwei Fahnen für mich: die der Bundesrepublik und die der EU. Jetzt schmücken sie mein Büro. Nur für unsere baden-württembergische Landesfahne muss ich noch einen Fahnenständer besorgen. Und den Röttgen will ich nicht schon wieder anhauen.