Seelsorger am Telefon. Foto: dpa/Markus Scholz

Die Pandemie verursacht Ängste, Depressionen und psychische Erkrankungen in steigendem Maß. Ein Indiz dafür liefern die rund 40 000 Kontaktanfragen bei der Telefonseelsorge. Alarmierend: In Chats taucht das Thema Suizid doppelt so häufig auf als 2019.

Stuttgart - Die Telefonseelsorge ist in ihrem 60. Jahr zu einer Anlaufstelle vieler junger Leute geworden, die bevorzugt per Mail und per Chat Kontakt suchen. Ihre Zahl ist um 800 auf 3730 im Jahr 2020 gestiegen.

Eines der beherrschenden Themen: die Pandemie. „Die Angst vor einer Erkrankung, die Folgen der Lockdowns haben ihr Leben massiv beeinträchtigt“, sagt Gabriele Stark, die Leiterin der katholischen Stelle Ruf und Rat. „Junge Leute leiden stark darunter.“ Alarmierend: Suizid sei bei 27 Prozent der Mailkontakte und bei 30 Prozent der Chatkontakte zur Sprache gekommen – doppelt so oft als 2019.

Der Chat ist für Junge eine Übungsbühne

„Corona wirkt bei Jüngeren wie ein Brandbeschleuniger“, sagt Martina Rudolph-Zeller, die Leiterin der evangelischen Telefonseelsorge. „Die jungen Leute sind mitten drin in der Entwicklung ihrer Identität, des sozialen Miteinanders, der Beziehungen, der Liebe. Jetzt sind sie zurückgeworfen auf ihre Kinderrolle, müssen zu Hause bleiben, ohne Peergroups, können nicht in Berufe schnuppern und auch der Initiationsritus einer Auslandsreise entfällt – die sind volle Kanne ausgebremst.“ Manches könnten sie aus Scham nicht aussprechen, manche hätten Angst, dass deshalb Beziehungen auseinander gehen könnten. Ein Chat sei für sie wie eine Übungsbühne.

Drei Viertel der Chat- und Mailkontakte haben Frauen aufgenommen, rund die Hälfte war 20 bis 29 Jahre alt, 18 Prozent waren zwischen zehn und 19 Jahre. Depressionen, Ängste, Einsamkeit, Selbstbildstörungen, psychische Erkrankungen sind die häufigsten Themen gewesen.

Ältere telefonieren lieber

Bei Älteren steht noch das Telefon hoch im Kurs. Bei fast 80 Prozent der 36 453 Anrufe ist ein Gespräch zustande gekommen. Auch dabei ging es um Depressionen, Erkrankungen, Corona, Einsamkeit und Ängste, allerdings äußerten nur wenige Suizidgedanken. Fast die Hälfte der Anrufer war zwischen 40 und 59 Jahre alt, ein Drittel über 60. Sie waren „alleinlebend, im Homeoffice, arbeitslos oder in prekären Verhältnissen“, beschreibt Gabriele Stark die eine Gruppe. Zur zweiten gehörten Familien, die durch Homeoffice, Homeschooling, Notbetreuung, räumliche Enge und unplanbare Verhältnisse belastet waren. Stark: „Je mehr alles auf Kante genäht ist, desto eher entsteht Aggression und alles kippt.“

Nicht zur Mitarbeit aufgerufen

Was folgt auf die Bestandsaufnahme der Telefonseelsorge? Martina Rudolph-Zeller sagt: „Ich wünsche mir eine größere Wahrnehmung beim Sozialministerium, bei Psychiatern und Psychotherapeuten. Dass wir nicht in deren Arbeitsgruppen vertreten sind, ist bedauerlich. Wir könnten gemeinsam für die Leute da sein.“