Nach der Flutkatastrophe im Ahrtal organisiert sich ein 25-köpfiger Trupp aus Stuttgart, um zu helfen. Am Feierabend, am Wochenende oder an Urlaubstagen sammeln sie Spenden und fahren ins Ahrtal, um denen zu helfen, die alles verloren haben.
Stuttgart/Mayschoss - Am 16. Juni klingelt bei Anja Soldner das Telefon. Seither steht es nicht mehr still. Immer wieder melden sich Opfer der Flutkatastrophe im Ahrtal und erzählen von ihrem Schicksal. Anja Soldner arbeitet bei einer Stuttgarter Versicherung, Großschadenabteilung. Die Folgen der Flutkatastrophe bekommt sie hautnah mit: „Eine ältere Dame hat erzählt, dass ihr Nachbar bei der Flut ums Leben gekommen ist. Ich habe mit einer Mutter gesprochen, die ihr Haus verloren hat“, erzählt sie. Auch ihr Kollege Tim Ilzhöfer nimmt solche Anrufe entgegen: „Da ging es um Schäden von bis zu 300 000 Euro. Oft war die einzige Frage, ob sich eine Kernsanierung überhaupt noch lohnt oder ob man das Haus ganz abreißen muss“, erinnert er sich.
Meterhohe Schlammberge und Wohnmobile, die in Bäumen hängen
Das Elend im Ahrtal wollen sie nicht nur mit Aktenzeichen versehen und abheften, sondern den Opfern der Katastrophe an Ort und Stelle helfen. Anja Soldner startet einen Aufruf auf Instagram, trommelt Freunde zusammen. Eine Woche später fährt eine zehnköpfige Gruppe mit drei Kleintransportern voller Sachspenden in Richtung Hochwassergebiet. Die Schneise der Zerstörung, die das Wasser hinterlassen hat, nimmt alle mit:„Das gesamte Ahrtal lag in Trümmern. Wohnmobile hingen in Bäumen, Waschmaschinen, Autos und Kleiderberge stapelten sich meterhoch“, beschreibt Anja Soldner die Situation.
Sachspenden wurden in Garage gesammelt – Schäden machen sprachlos
Monika Nägele ist eigentlich stellvertretende Leiterin einer Kindertagesstätte. Auch sie berührte das Elend, das die Flut im Ahrtal angerichtet hat, es lässt sie nicht mehr los. In ihrer Garage wurden die Sachspenden gesammelt, bevor sie mit den anderen Stuttgarter Helfern ins Ahrtal fuhr: „Anfangs war ich völlig fassungslos, konnte gar nicht mehr sprechen. Meterdicke Stahlträger lagen verbogen auf der Straße, Brücken standen nur noch zur Hälfte da. Egal, was man in den Medien sieht, wenn man zum ersten Mal hinfährt, kann man sich doch nicht vorstellen, was da auf einen zukommt.“
Feierabende, Urlaub, Wochenende: Sie nutzen jede freie Minute
Zusammen mit anderen freiwilligen Helfenden tragen die Stuttgarter Trümmerhaufen ab, schippen Schlamm und räumen Keller frei. Die Helfergruppe ist gut organisiert: Auf ihrer Internetseite „Glück im Unglück“ (gliu.de) berichten sie von ihren Erlebnissen im Ahrtal und sammeln Spenden. Mittlerweile sind es rund 25 Helfende aus dem Großraum Stuttgart, die sich zusammengefunden haben.
Nach dem ersten Wochenende im Ahrtal sind sich alle einig, dass sie weiter helfen wollen. Doch die Organisation der Helfer ist schwierig, immer wieder neue Anlaufstellen zu suchen langwierig und zeitraubend. Auf Facebook läuft derweil ein Hilferuf für Volker Poppelreuter. Die Flut hat sein Haus in der Gemeinde Mayschoss völlig zerstört, eine Versicherung für Elementarschäden hat er nicht. Die Stuttgarter erfahren von seinem Schicksal und legen los: Zuerst soll der Anbau des Hauses wiederaufgebaut und bewohnbar gemacht werden.
Nach Feierabend fragen die Helfer Firmen nach Sachspenden, suchen auf Portalen für Kleinanzeigen nach Fliesen, Holz und Baumaterial: „Das läuft alles so nebenher“, sagt die Versicherungsangestellte Anja Soldner mit einem Achselzucken. Mehrere Wochenende, Urlaubstage und Feierabende zu opfern, um zu helfen – das ist für alle selbstverständlich.
Trotz Sachspenden fehlt es – vor allem an Handwerkern
Vermutlich kann Volker Poppelreuter schon in den nächsten Wochen in einen Teil des Hauses wieder einziehen. Das ist auch dringend nötig, denn die kalten Monate rücken immer näher. Die große Anzahl an Sachspenden kurz nach der Flut konnte viele Grundbedürfnisse der Opfer decken. Und doch fehlt immer noch vieles: „Wir brauchen Elektriker, Dachdecker, Fliesenleger – diese Menschen sind wie Gold“, sagt Timo Gößner und hofft, dass sich noch mehr Menschen in die Reihen des schwäbischen Helfertrupps einreihen.
„Eine solche Hilfsbereitschaft habe ich schon lang nicht mehr erlebt“
Die enorme Bereitschaft mit anzupacken beeindruckt die Helfenden fast noch mehr als die enormen Schäden, die die Flut hinterlassen hat. „Mein bisher schönster Moment im Ahrtal war, als wir bei Volker das Dach abgedeckt haben. Da stand ich oben, habe in den Hof geschaut, und plötzlich stand da eine riesige Menschenkette, die das Material abtransportiert hat – ohne, dass wir danach gefragt haben“, erzählt Michaela Thanel. Die Grafik-Designerin hat selbst kein Auto, aber wusste schon bald nach dem Katastrophe im Ahrtal: „Egal wie, ich fahre hin und helfe!“
Die Ahrtal-Katastrophe hat viele Menschen spontan dazu bewegt, mit anzupacken. Die Stimmung im Ahrtal sei daher sehr besonders: „Eine solche Hilfsbereitschaft habe ich schon lang nicht mehr erlebt“, berichtet Monika Nägele: „Es gibt hier kein ‚Du parkst auf meinem Parkplatz!‘, sondern nur ein großes Miteinander.“