Anna Osadcenko wird für die Filmaufnahmen geschminkt. Foto: Royal Film Company/RFC

Eine Tänzerin schminkt sich, macht sich warm für die Vorstellung, geht auf die Bühne. Fast alles ganz normal im neuen Videoclip des Stuttgarter Balletts – bis das Licht im Opernhaus angeht.

Stuttgart - Der Vorhang bleibt zu, das gilt nach wie vor für die Theaterbühnen im ganzen Land. Gestreamte Vorstellungen sind in der Coronapandemie nur ein karger Ersatz für das Live-Erlebnis; sie sorgen beim Zuschauen eher für Phantomschmerzen als für ungetrübte Begeisterung: Die Energie einer Zuschauergemeinschaft in einem vollen Saal ist daheim auch auf einem noch so eng besetzten Sofa nicht herzustellen. Und dass man hemmungslos mit Chips knistern, krümeln und kleckern darf? Jeder würde dieses armselige Privileg sofort eintauschen gegen den harten Theatersessel, der uns aufrechte Haltung und ungebrochene Aufmerksamkeit abverlangt.

Anna Osadcenko ist der einsame Star des Clips

Wie sehr auch die Künstler die Energie des Publikums vermissen, zeigt nun ein kurzer Film des Stuttgarter Balletts. „We miss you“ heißt der dreiminütige Clip, der auf dem Youtube-Kanal der Kompanie zu sehen ist. Wir erleben die Erste Solistin Anna Osadcenko, wie sie sich auf eine Vorstellung vorbereitet, um dann für das Solo „Der sterbende Schwan“ aus den Kulissen auf die Bühne zu treten und es mit schöner Zerbrechlichkeit und melancholischem Schmerz zu tanzen. Alles ist da, während wir hören, wie Streicher ihre Instrumente stimmen: Das Schminken in der Maske, das Schnüren der Spitzenschuhe, die Konzentration der Tänzerin vor der Vorstellung, der sehnsuchtsvolle, schöne Tanz zu traurigen Klängen.

Wie sich ein Theater ohne Publikum anfühlt

Doch als der tote Schwan am Boden kauert, flutet statt Applaus mit einem lauten Klacken grelles Licht den Zuschauerraum im Opernhaus. Seine leeren Ränge erinnern tatsächlich an ein zahnloses Gebiss, wie der Choreograf Marco Goecke einmal die Abwesenheit der Zuschauer beschrieben hat.

„We miss you too“, „Ich vermisse das Ballett auch“: Solche Reaktionen kann man in den ersten Kommentaren zum Video lesen. Die Bühnenkunst, die Kultur überhaupt fehlt den Menschen, fehlt den Innenstädten, die als reiner Ort des Konsums viel an Attraktivität einbüßen. Aber auch den Tänzerinnen und Tänzern des Stuttgarter Balletts fehlt ihr Publikum – und die Perspektive auf eine Öffnung, nachdem die Theater auch im Mai geschlossen bleiben. Um dieses Gefühl zu benennen, hat das Stuttgarter Ballett gemeinsam mit der Stuttgarter Produktionsfirma Royal Film Company den Kurzfilm „We miss you“ gedreht. Auf eindringliche Weise, so teilt die Kompanie mit, soll zum Ausdruck kommen „was die Tänzerinnen und Tänzer und Ballettintendant Tamas Detrich seit der letzten Vorstellung vor einem Live-Publikum im Oktober 2020 fühlen“. Jeden Ballettfan wird die Einsamkeit der Tänzerin im leeren Opernhaus zu Tränen rühren.

„Unser Theater ist erneut einen Monat geschlossen. Obwohl wir natürlich weiterhin trainieren und proben, vermissen wir vor allem unsere Zuschauer und Zuschauerinnen. Der Film fängt genau diese Sehnsucht ein“, sagt Tamas Detrich. Nachdem das Team um Regisseur und Filmproduzent Moritz Schreiner bereits mit den Arthaus Kinos Stuttgart und der Staatsgalerie arbeitete, entstand dieser Kurzfilm mit dem Stuttgarter Ballett. Das Video wurde analog in Zusammenarbeit mit Kodak gedreht und ist auf der Webseite, dem Instagram-und Youtube-Kanal des Stuttgarter Balletts zu sehen.