Eine Rollstuhlfahrerin fährt in einer Wohngemeinschaft einen Flur entlang zu ihrem Zimmer. Foto: dpa/Karl-Josef Hildenbrand

Der Mangel an Fachkräften, ständige Personalwechsel und die Überforderung von Freiwilligen im sozialen Jahr belastet behinderte Erwachsene in Pflege-Wohngemeinschaften. Ein Bericht unserer Zeitung hat Reaktionen hervorgerufen.

Ein Platz in einer Pflege-WG ist vor allem für jüngere Menschen mit Behinderung ein heiß ersehntes Ziel. Die erhoffte Selbstständigkeit bleibt jedoch mitunter auf der Strecke, wie ein Bericht in unserer Zeitung belegt hat. Darin wird geschildert, dass der Personalmangel das ambitionierte Projekt einer Wohngemeinschaft in Nürtingen gefährdet für Menschen, die ein hohes Maß an Pflege brauchen. Die Geschichte einer jungen Frau mit Spastischer Zerebralparese und daraus resultierenden Mehrfachbehinderungen ist kein Einzelfall.

Ein Ehepaar aus Stuttgart schildert fast die gleichen Probleme, vor die sie gestellt sind. Ihr behinderter Sohn hat seinen Platz in einer Stuttgarter Einrichtung gefunden und lebt dort seit fünf Jahren in einer WG für Erwachsene. Die meisten Betreuer seien sehr bemüht und zugewandt, aber insbesondere in den Jahren von 2018 bis 2021 habe es ständige Wechsel und Ausfälle beim Personal gegeben. „Teilweise hat unser Sohn über Tage hinweg seine Medikamente nicht bekommen“, schildert die Mutter, die anonym bleiben will, die Situation.

Platz in der WG plus Assistenzleistung kosten 2500 Euro

Sie habe Fotos von verschimmelten Sachen im Kühlschrank gemacht, die Zimmer seien nicht aufgeräumt und geputzt worden. Dass sie alle zwei Wochenenden ihren Sohn abholen müssen, haben sie akzeptiert. Aber dass er, wenn er krankheitsbedingt nicht in der Werkstatt arbeiten könne, zu Fuß zur Tagesbetreuung laufen müsse, weil kein Personal anwesend sei, das den Führerschein habe, verärgert die Eltern.

Er habe sich telefonisch bei einem Verantwortlichen „über die lang andauernden Missstände, vor allem den Personalmangel und -wechsel im Jahr 2020 beschwert, aber keine Rückmeldung erhalten, schildert der Vater die Situation. „Daraufhin haben wir uns vorbehalten, den 200-Euro-Zuschlag bis auf weiteres nicht zu zahlen“, so der Vater.

Der Platz in der WG und die zugehörige Assistenzleistung kosten monatlich rund 2500 Euro. Die Eltern leiten darüber hinaus einen Wohngruppenzuschlag der Krankenkasse von rund 200 Euro an die Diakonie weiter, den so genannten Entlastungsbetrag, der den Klienten für Angebote zur Unterstützung im Alltag (beispielsweise Hilfe im Haushalt, Alltagsbegleiter, Gruppenangebote) zugutekommen soll. „Nach der Androhung, den Betrag einzubehalten, haben wir, ganz plötzlich, jemanden gekriegt, der die Räume reinigt“, so die Mutter. Derzeit gebe sich eine Betreuerin „wahnsinnig viel Mühe“, aber auch sie könne nicht alles allein regeln. „Warum machen die solche Projekte, wenn sie es personell nicht stemmen können?“

Der Pressesprecher der Diakonie Stetten räumt ein, dass sich während der Hochzeit der Coronapandemie die Personalengpässe „immer wieder verschärft“ hätten. Dass es zu medizinischen Engpässen gekommen sein soll, sei der Organisation allerdings nicht bekannt. „Wir sehen immer zu, dass wir die Betreuung aufrechterhalten können, und das ist uns in größerem Umfang auch gelungen“, sagt Steffen Wilhelm. Aus den anderen WGs erhalte man „sehr positive Rückmeldungen“, er habe nicht den Eindruck, dass man das Konzept aufgeben müsse, man werde sich aber mit den Klagen beschäftigen.

„Im Notfall kümmern sich die Eltern“

Die Stuttgarter Heimaufsicht hat nach Auskunft der Pressestelle den betreffenden Wohnverbund zuletzt am 28. Januar kontrolliert, innerhalb des jährlichen Turnus’. „Dabei kam es zu keinen Beanstandungen, die ein heimrechtliches Handeln erforderlich gemacht hätten“, heißt es, und weiter: „Die Bewohner schienen pflegerisch gut versorgt zu sein, wirkten zufrieden und schienen sich sehr wohl zu fühlen.“

„Wann hört die Pflege eines beeinträchtigten Kindes auf?“, fragt eine Leserin in Anbetracht des Personalmangels. „Wenn die Eltern 50, 60, 70 sind? Nein, leider nicht. Die Pflege geht, bis man zusammenbricht.“ Sie gibt zu bedenken, dass der Bedarf an Wohnraum und Assistenz schon Jahre vorher bekannt sei. „Da kann man schon bewusstes Kalkül unterstellen, denn im Notfall kümmern sich die Eltern um ihr schwer behindertes Kind, zumindest bis sie zusammenbrechen. Das ist viel günstiger, als den Pflegenotstand ernsthaft anzugehen.“

Der 30-Jährige aus der Wohngemeinschaft der Diakonie Stetten ist zurzeit übrigens wieder bei den Eltern: diesmal, weil er positiv auf Corona getestet worden ist. Seine WG kann tagsüber nicht betreut werden, sich in seinem Zimmer zu separieren ist deshalb nicht möglich.