Musicalgründer Rolf Deyhle in roter Smokingjacke im Dezember 1994 bei der Premiere von „Miss Saigon“ mit dem damaligen Ministerpräsidenten Erwin Teufel und dessen Frau sowie mit Stella-Chef Günter Irmler (rechts). Foto: Uli Kraufmann

Theatergründer Rolf Deyhle trug bei der Premiere eine rote Smokingjacke: 30 Jahre ist es her, dass Stuttgart mit „Miss Saigon“ zur Musicalstadt wurde. Über Möhringen schwebte der Duft der großen Welt. Erinnerungen an Höhepunkte, Besitzerwechsel und Kurioses.

Es schien fast, als wolle die Politik die zierliche Miss Saigon gleich in der Premierennacht zur Ehrenbürgerin Stuttgarts ernennen: Die Honoratioren verneigten sich vor dem Barmädchen wie vor einer Heiligen, als sie am 2. Dezember 1994 zum ersten Mal auf der nagelneuen Bühne in Möhringen gesungen, geliebt, geweint hatte und dann in den Armen ihres GI Chris starb. Klebrig-süß erklang das Solo-Saxofon.

Für das Bild, das die Nation bis dato von den Schwaben hatte, war die knallrote Smoking-Jacke von Musicalgründer Rolf Deyhle bei der Premiere etwas zu heftig. Doch alle sollten sehen: Mit „Miss Saigon“ ist die große Welt in Stuttgart angekommen. Nicht nur mit seiner Kleidung trug der Unternehmer dick auf. Mit 1500 Magnumflaschen Champagner, 33 Tonnen Meeresfrüchten und übervollen Büffets sollte vor 30 Jahren schwäbischer Geiz widerlegt werden.

Blumen beim Schlussapplaus der Premiere von „Miss Saigon“ am 2. Dezember 1994. Uwe Kröger und Aura Deva spielten die Hauptrollen. Mit auf dem Foto ist Lanie Sumanilog, die heute bei der „Eiskönigin“ mitwirkt. istte Foto: Thomas Hörner

Noch frühmorgens fand Michael Graeter „gut gefüllte Töpfchen mit Kaviar“

„Man vergisst, dass man bei Schwaben ist“, schrieb der Klatschkolumnist Michael Graeter in der „Bunten“. Noch frühmorgens fand er „gefüllte Töpfchen mit Kaviar“ vor. Es wurde geklotzt und nicht gekleckert: Die Produktionskosten der Show betrugen damals 20 Millionen Mark – so viel wie nie zuvor bei einem Musical in Deutschland.

Kritiker und Freunde der „hohen Kunst“ warnten vor kulturellem Fast Food. Stadtwerber indes freuten sich. Ein Jahr, nachdem der Hubschrauber von Saigon auf der Bühne zu knattern begonnen hatte, stieg die Zahl der Hotelübernachtungen um 20 Prozent. Das Leben des früheren Finanzbeamten Rolf Deyhle liefert mit vielen Aufs und Abs Stoff für die Bühne. Deyhle, der 2014 Suizid beging, löste den Musical-Boom in Deutschland mit aus und machte die Fußball-WM profitabel – seine Stella AG aber rutschte in die Insolvenz.

Das Wort „Hollywood“ – oder auch nur ein Hauch davon – wurde in der Berichterstattung nach der Dezember-Premiere anno 1994 oft bemüht. Gepanzerte Limousinen waren direkt vors Theater gefahren. Im Blitzlichtgewitter entstiegen ihnen prominente Gäste, darunter die Entertainerin Caterina Valente, der Sänger Howard Carpendale und der Produzent Cameron Mackintosh. Zwischen Feuerschalen schritten sie auf dem roten Teppich in den neuen Musentempel, der damals Musical Hall hieß.

Am 4. Dezember feiert Uwe Kröger seinen 60. Geburtstag

Uwe Kröger und Aura Deva spielten die Hauptrollen in „Miss Saigon“ und wurden zum Traumpaar des Stuttgarter Musicals. Kröger ist noch heute auf den Bühnen viel beschäftigt. Er erinnert sich „sehr gern“ an die Zeit, wie er unserer Zeitung sagt. Am 4. Dezember feiert er seinen 60. Geburtstag.

Aura Deva besuchte zuletzt vor 15 Jahren das SI-Centrum und bestellte in Stuttgart sogleich ihre geliebten Kässpätzle. „Du die Sonne und ich der Mond“, hatten Kröger und Aura Deva schmachtend gesungen. Ihr Stück schaffte, was danach keines mehr geschafft hat: Fünf Jahre lang blieb es auf den Fildern. Heute wechseln die Shows immer schneller. 1997 kam auf der anderen Straßenseite ein zweites Theater hinzu.

OB Nopper: Musicalhäuser sind „ein wichtiger Standortfaktor“

Nach etlichen Besitzerwechseln und vielen Krisen hat es die Stage Entertainment geschafft, bis heute an zwei Stuttgarter Häusern festzuhalten, am Apollo- und Palladium-Theater –in Oberhausen hat der Musicalmarktführer mit Sitz in Hamburg im Jahr 2020 eine Spielstätte geschlossen

Für OB Frank Nopper (CDU) sind die beiden Musicalbühnen auf den Fildern „ein wichtiger Standortfaktor“. Sie hätten „eine große Bedeutung für Tourismus, Hotellerie und Gastronomie“. Nun wünscht er sich, endlich wieder eine Deutschland-Premiere für Stuttgart – die letzte war 2018 mit „Anastasia“. Als „Stern des deutschen Musical-Südens“ hätte die Stadt eine Erstaufführung verdient, sagt Nopper.

Der OB freut sich, dass er vor wenigen Tagen „eine überzeugende Stuttgart-Premiere“ erlebt hat. Die Stage habe eine „besonders schöne Stuttgart-Variante der ,Eiskönigin’“ aufgeführt, lobt er. Vor lauter Disney-Freude und der anschließenden Michael-Jackson-Premiere hat die Stage Entertainment bisher noch keine Gelgenheit gefunden, den 30. Geburtstag des Musicalstandorts zu feiern. Man werde das Jubiläum aber noch würdigen, sagt Unternehmenssprecher Stephan Jaekel. Wie, das wird noch nicht verraten.

„Tanz der Vampire“ zählt zu den Tops, „42nd Street“ zu den Flops

Auch wenn die Verkaufszahlen der Musicals das Geschäftsgeheimnis des Marktführers bleiben und sich Erfolg oder Misserfolg nicht immer an Laufzeiten ablesen lassen, so sind die Tops und Flops doch leicht auszumachen. Klare Nummer eins in 30 Jahren ist „Tanz der Vampire“. Zu den Verlierern zählt „42nd Street“.

Die Stella AG war in den 1990ern der Marktführer für Musicals in Deutschland. Von 2001 an war der Stuttgarter Rolf Deyhle einziger Inhaber des Unternehmens mit mehr als 50 Tochterfirmen und gut 5000 Mitarbeitern. Auf den Boom folgte die Ernüchterung. 1998 waren die Produktionen nur zu 78 Prozent ausgelastet. Der Konzern wurde im Juli 1998 wegen finanzieller Schwierigkeiten Deyhles aus dessen Unternehmensgruppe herausgelöst, 1999 erfolgte der Antrag auf ein Insolvenzverfahren.

Am 1. April 2000 übernahm die Deutsche Entertainment AG von Peter Schwenkow für gerade mal 40 Millionen D-Mark die profitablen Teile der Stella AG. Aber schon 2002 verkaufte der Berliner im Strudel der Stella-Pleite das Unternehmen weiter – an Joop van der Ende mit seiner Stage Holding nach Holland. Daraus wurde die Stage Entertainment mit Sitz in Hamburg, die sich seit 2018 im Besitz des US-Medienkonzerns Advance Publications mit Sitz in New York befindet. 2021 wurden in Stuttgart 14 Stellen gestrichen – darunter die komplette Pressestelle.

Ehemalige Darstellerinnen und Darsteller von Stuttgarts „Miss Saigon“ treffen sich bis heute regelmäßig. /Fischer

30 Jahre später spielt Lanie Sumalinog bei der „Eiskönigin“ mit

Die Shows kamen und gingen, viele Darsteller aber blieben. „Miss Saigon“ war gut für Freundschaften. Etliche der Musicalsängerinnen und -sänger, die 1994 für das Musical nach Stuttgart zogen, haben sich hier niedergelassen, wie etwa Maryanne Kelly und Andrew Hunt. Ein Darsteller schulte um auf Pfleger und singt heute für Demenzkranke. Lanie Sumalinog, die zur ersten Cast von „Miss Saigon“ gehörte, spielt 30 Jahre später bei Disneys „Eiskönigin“ die Königin Iduna. Der Kreis schließt sich. Am 16. Dezember feiern die Ehemaligen das Jubiläum der Show im Restaurant Saigon an der Königstraße.

David Whitley erinnert sich an Besuche im Kings Clubs

Einer der Altvorderen ist der in Washington geborene David Whitley, der den GI John spielte und Premierengast bei der „Eiskönigin“ war. „Bist du jung, denkst du, das bleibt so, du hast noch so viel vor dir“, sagt er. Der Sänger erinnert sich daran, dass viele aus dem Ensemble nach den Vorstellungen bei „Miss Saigon“ die Schwulendisco Kings Club besuchten. Einmal sei auch seine Mutter dabei gewesen, und es habe ihr gut gefallen.

Dass „Miss Saigon“ zurück nach Stuttgart kommt, ist unwahrscheinlich. Die Marktforschung der Stage Entertainment hat ergeben, dass die meisten Musicalfans den Klassiker nicht noch einmal sehen wollen. Die Zeit des Vietnam-Kriegs ist vorbei – aber die Zeit der Musicals noch nicht. Aus der Gerüchteküche verlautet jedenfalls, dass die Stage in Hamburg angeblich auch darüber diskutiert, Queens „We will rock you“ noch mal in Stuttgart aufzuführen.