Ein Stolperstein für die Großmutter Sigmunde Friedmann wurde für die ehemalige Stuttgarter Jüdin Charlotte Isler zur Brücke in die einstige Heimatstadt, aus der sie 1939 mit der Familie fliehen musste. Am 24. November feiert sie in den USA ihren 100. Geburtstag.
Man muss schon von Rang und Namen sein, um sich ins Goldene Buch der Stadt eintragen zu dürfen. Dass ihr diese Ehre einmal zuteil werden sollte, hätte sich Charlotte Isler nie träumen lassen. Schon gar nicht damals, 1939, als sie mit ihren Eltern fluchtartig die Heimatstadt verlassen musste, um sich vor der mörderischen Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu retten. Aber 84 Jahre später, am 5. Oktober 2023, saß sie im Amtszimmer von OB Frank Nopper im Rathaus und schrieb sich schwungvoll ein ins Ehren-Gedächtnis der Stadt. „Ein paar Seiten hinter Queen Elisabeth“, staunt die gebürtige Stuttgarterin immer noch. Nun feiert Charlotte Isler am 24. November in ihrem Zuhause in Irvington on Hudson nahe New York ihren 100. Geburtstag.
Die Zeitzeugin gehört mit Thomas Naegele, der in New York lebt und am 11. Oktober 100 Jahre alt wurde, und Trudy Schwarz in Boston, der 105-jährigen Nichte von Otto Hirsch, zum Trio der letzten noch lebenden ehemaligen Stuttgarter Juden. Man muss sie kaum mehr vorstellen. Aufgeschlossen, zugewandt und mit ihrer Freude an Kontakten pflegt die ehemalige Krankenschwester und Medizinjournalistin einen großen Kreis von Freunden, die sich als Besucher in Irvington die Klinke in die Hand geben. Zu verdanken ist diese Wendung dem Kunst- und Erinnerungsprojekt Stolpersteine, mit dem der Künstler Gunter Demnig genau das bewirken wollte: Brücken der Versöhnung zu schlagen.
Am 10. April 1939 ein letztes Mal durch die leere Wohnung
„Werde ich jemals hierher zurückkommen?“, hatte sich die 14-jährige Charlotte Nussbaum gefragt, als sie am 10. April 1939 ein letztes Mal durch die leere Wohnung in der Hohenstaufenstraße ging. Sie habe nicht verstanden, warum die Flucht unausweichlich war, „was hatte es damit zu tun, dass wir jüdisch waren“, schreibt sie in ihren Memoiren. Aber an diesem Tag verließ die Familie Nussbaum Stuttgart für immer und fand in den USA ein neues Zuhause. Charlotte, verheiratete Isler, ist zurückgekommen. Nur auf Besuch, um ihrem Mann Werner und ihren Söhnen Donald und Norman zu zeigen, wo sie als Kind gelebt hatte. „Dann war Stuttgart für mich ein abgeschlossenes Kapitel, ich hatte nur noch schmerzliche Erinnerungen.“ Denn ihre Großmutter Sigmunde Friedmann war nicht in die Emigration gefolgt und starb 1944 in Theresienstadt an Hunger und Typhus. Ein Anruf aus Stuttgart am 7. März 2008 änderte alles: Die Anruferin war Irma Glaub von der Stolperstein Initiative, die mit beharrlichem Spürsinn die Enkelin ausfindig gemacht hatte, weil für Sigmunde Friedmann ein Stolperstein gesetzt werden sollte. „Ich wusste gar nicht, was ein Stolperstein war“, erinnert sich Charlotte Isler. Aber ein halbes Jahr später stand sie in der Hohenstaufenstraße 17a davor. Und ist seither immer wieder gekommen. Sie erhob wirkmächtig ihre Stimme für den Kampf um den Erhalt des Hotel Silber und war bei der Eröffnung des Lern- und Gedenkortes 2018 als Gast der Stadt dabei. Sie erzählte ihr Leben vor der Kamera für das Zeitzeugenprojekt des Stadtjugendrings (frage-zeichen.org) und stellte 2023 ihre um ein aktuelles Stuttgart-Kapitel ergänzten Erinnerungen vor, die das Stadtarchiv herausgegeben hat.
Das Rathaus hat den Geburtstag nicht vergessen
Genug Rang und Namen für den Eintrag ins Goldene Buch. Auch der Geburtstag wurde im Rathaus nicht vergessen, der OB gratuliert. Da kommt die einst Vertriebene manchmal ins Grübeln: „Wie ist es möglich“, fragt sich Charlotte Isler, „dass so viele Deutsche gute Menschen sind, verglichen mit denen, die die Grausamkeiten der NS-Zeit nicht nur erlaubten, sondern unterstützten.“