Ein Stolperstein und die Nachforschungen seiner Großnichte bewahren Friedrich Enchelmayer vor dem Vergessen. Er kam wegen seiner Homosexualität im KZ Neuengamme zu Tode. Aus unserer Serie „Stuttgarter Stolpersteine – Die Menschen hinter den Namen“.
„Es gibt niemanden mehr, der ihn noch lebend gekannt hat. Und es hat in unserer Familie auch niemand groß über ihn gesprochen. Ich habe erst mit Anfang 20 davon gehört. Als die Oma starb.“ Susanne Enchelmayer, heute 55 Jahre alt, spricht von ihrem Großonkel Friedrich Hermann Enchelmayer. Dem Bruder ihres Großvaters. Ein Opfer des NS-Terrors. An ihn erinnert ein Stolperstein in der Aberlin-Jörg-Straße in Bad Cannstatt mit Daten und Ortsangaben, die die Stationen einer Biografie – der Verfolgung und Kriminalisierung bis hin zur Vernichtung – markieren: „Jg.1908 Zuchthaus Ludwigsburg 1940 Dachau Sachsenhausen Ermordet 9.11.1940 Neuengamme.“ Der Mensch hinter diesen Schlagworten bleibt zunächst im Dunkeln. Wer war er? Warum starb er im KZ? Ermordet?
Die Verlegung des Stolpersteines am 30. April 2010 haben Rainer Redies von der Stolperstein-Initiative und Ralf Bogen, Autor des Projektes „Der Liebe wegen“, das die Verfolgung und Diffamierung Homosexueller erforscht, veranlasst. Denn Enchelmayer war eines der Opfer, die im Nationalsozialismus wegen ihrer Homosexualität, also „der Liebe wegen“, in einem KZ zu Tode kamen. Eines von mindestens 5000, andere Forschungen nehmen 15 000 Opfer an. Verbürgt sind aus Baden-Württemberg 73 Männer, acht davon aus Stuttgart, darunter Enchelmayer, namentlich in dem Buch „Späte Aufarbeitung – LSBTTIQ-Lebenswelten“ aufgeführt. (Herausgegeben von Martin Cüppers und Norman Domeier, Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg und Bundesstiftung Magnus Hirschfeld).
Alle Informationen aus einer dicken Akte aus dem Staatsarchiv
Aber der Mensch ist mehr als ein Delikt und Kriminalfall. Susanne Enchelmayer hat zum Gespräch über ihren Großonkel eine dicke Akte vom Staatsarchiv in Ludwigsburg mitgebracht. Sie war nicht leicht zu bekommen für die Verwandte zweiten Grades. „Die Akte wird nur an direkte Nachkommen oder für wissenschaftliche Forschung herausgegeben“, sagt sie. Darum war Unterstützung durch den Historiker und Autor Rainer Redies notwendig. „Alles, was ich über den Großonkel weiß, habe ich aus dieser Akte. Auch das einzige Foto, das es von ihm gibt.“ Es ist undatiert und vermutlich vom Erkennungsdienst der Polizei aufgenommen worden. Ein junger Mann mit Dreitagebart, der ernst und ein wenig stoisch in die Kamera blickt. Einer, der aus dem Arbeitermilieu stammt und die Härte des Lebens schon früh zu spüren bekommen hat.
So viel ist bekannt: 1908 geboren, wurde er schon 1914 Halbwaise. Der Vater fiel gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Weil die Mutter nun arbeiten musste, wurde der Bub „bei fremden Leuten und Verwandten untergebracht, wo ich überall zu viel war“, wie er sich später erinnerte. Er sei ein mittelmäßiger Schüler gewesen, habe aber die Volksschule problemlos durchlaufen und anschließend eine Lehre als Eisendreher absolviert. „Während der Lehrzeit war ich zu Hause auf mich selbst angewiesen, da meine Mutter abends zur Arbeit ging.“ Vor der Arbeitslosigkeit in Deutschland bewahrt ihn 1929 eine Stelle in der Schweiz. 1932 ist er in Ostpreußen in der Landwirtschaft tätig.
Er bemüht sich vergeblich um Gesetzestreue
1934 brachte ihn seine homosexuelle Veranlagung zum ersten Mal vor Gericht, das ihn zu einem Jahr Gefängnis verurteilte. Wo und wie er auffällig und zum Strafverfolgten geworden war, geben die Spuren seines Lebens offenbar nicht her. Umso mehr über seine eigene Anstrengung und die irrtümliche Hoffnung, gegen seine sexuelle Identität kämpfen zu können: „Nach Verbüßung meiner ersten Strafe ließ ich mich ärztlich behandeln, aber ohne Erfolg“, schreibt er später. „Ich lernte ein Mädchen kennen, mit dem ich zwei Jahre ein Verhältnis hatte und das zur Verlobung führte. In der Folgezeit erkannte ich, dass sie nicht zu mir und meiner Veranlagung passte, und so wurde das Verhältnis immer lockerer, was schließlich die Lösung der Verlobung zur Folge hatte.“ Friedrich Enchelmayer gibt seiner Neigung, die er als sein „altes Übel“ bezeichnet, wieder nach und steht erneut vor Gericht: „Wenn meine Tat auch strafwürdig ist, so doch nicht zuchthauswürdig“, heischt er um Verständnis für seinen Konflikt zwischen sexueller Neigung und dem Bemühen um Gesetzestreue. Und um eine milde Strafe. Davon unbeeindruckt fällt der Richter die Höchststrafe von zwei Jahren und einem Monat Zuchthaus, die Enchelmayer am 7. Dezember 1937 in Ludwigsburg antreten muss und bis zum letzten Tag absitzt.
Susanne Enchelmayer holt aus der Akte einen Brief, den der Häftling am 26. Juni 1938 an die Familie schrieb: Liebe Mutter, lieber Bruder, liebe Meta“, die Schwägerin. In gestochen schöner Schrift, ohne ein Wort der Klage über sein Geschick. Nun ja, die Wärter seien nicht sehr freundlich. Aber vor allem ist er rührend besorgt um die Mutter, die nicht so viel arbeiten und sich mehr schonen solle. Und er ist voller Zuversicht auf die Zeit nach der Haft, die ja auch vorbeigehe. Doch der Konflikt mit einem Wärter zerstörte alle Hoffnungen. Er soll die Fäuste geballt haben, kassierte für diese „Ungebühr“ sieben Tage strengen Arrest und war somit in einer neuen Verbrechens-Kategorie abgestempelt. Mit weitreichenden Konsequenzen: „Enchelmayer neigt zu Ungebühr und Widersetzlichkeit“, heißt es in der Abgangsbeurteilung, die nach seiner Entlassung von der Kriminalpolizeistelle Stuttgart beim Vorstand des Zuchthauses eingeholt wird. Und weiter: „Unter gegenwärtigen Verhältnissen halte ich es für geboten, dass vorbeugende Maßnahmen gegen Enchelmayer getroffen werden.“
Er erlag angeblich einem Herzschlag
Damit ist sein Schicksal besiegelt: Es folgen „Politische Sicherheitsverwahrung“ als Häftling Nr. 13115 vom 1. Juni 1940 an im KZ Dachau, die Überführung mit Transport VIII am 3. September des gleichen Jahres nach Sachsenhausen und schließlich der Weitertransport am 30. September ins KZ Neuengamme als Häftling Nummer 011955 und eingestuft als Berufsverbrecher. Gekennzeichnet nicht mit dem Rosa Winkel, den die Nazis als „Schandmal“ für Homosexuelle erfanden, sondern mit einem grünen für Kriminelle allgemeiner Art. Denn er galt als Häftling in zeitlich befristeter Vorbeugehaft. Das Leben rettete ihm dieser Status nicht. Kaum sechs Wochen später ist Enchelmayer tot, gestorben am 9. November um 21 Uhr, angeblich einem Herzschlag erlegen, wie es in der offiziellen Mitteilung an die Mutter heißt. In einem ärztlichen Gutachten war ihm bei der Einlieferung ins Zuchthaus noch gute Gesundheit bescheinigt worden. Entlassen wurde er ebenfalls als „gesund und arbeitsfähig“.
„Ich habe im Geschichtsunterricht über den Nationalsozialismus nur von der Verfolgung und Vernichtung der Juden gehört, aber nie ein Wort darüber, dass auch Homosexuelle Opfer waren“, stellt Susanne Enchelmayer fest. „Die Nationalsozialisten konnten sich bei der Verfolgung von Homosexuellen auf Gesetze stützen, die es schon lange vor 1933 gegeben hatte“, macht Ralf Bogen in seinem Projekt „Der Liebe wegen“ klar. Denn der Paragraf 175 bestand seit 1872. Basierend auf der Jahrtausende alten Verdammnis der Kirche der „widernatürlichen Unzucht“. Er blieb auch im bundesrepublikanischen Rechtsstaat für den „Verstoß gegen das Sittengesetz“ erhalten, brachte neues Leid und wurde erst 1994 komplett abgeschafft. Kein Wunder, dass die heute 55-Jährige in der Schule nichts davon gehört hat, denn über das „anrüchige“ Thema wurde auch damals noch hinter vorgehaltener Hand gesprochen oder geschmacklos bis zotig gewitzelt.
Schämte sich die Familie seiner?
Susanne Enchelmayer wollte mehr wissen, nachdem der Tod der Großmutter in der Familie auch die Rede auf den vor langer Zeit verstorbenen Angehörigen gebracht hatte. Und der Blick in eine Familienbibel plötzlich Rätsel aufgab: Auf dem Blatt, das für die Geburtsanzeigen der Kinder vorgesehen ist, war der Eintrag „Friedrich Herrmann Enchelmayer, geboren 13. August 1908“ durchgestrichen. Wie eliminiert. Mit dem akkuraten Vermerk: „Gestrichen am Totensonntag 1928.“ Darunter folgt dann der Eintrag der Geburt des Bruders mit den gleichen Namen, nur in umgedrehter Reihenfolge: Herrmann Friedrich am 19. Juli 1913.
Wer hat diese Striche gezogen, als der junge Mann 20 Jahre alt war? Gestrichen, weil man sich seiner schämte, wie es in vielen Familien der Fall war? „Wir sind ratlos“, sagt Susanne Enchelmayer. „Der Vater lebte nicht mehr. Und die Mutter kann es nicht gewesen sein.“ Denn Marie Enchelmayer hat sich zu ihrem Sohn bekannt, wie eine Karte von ihr beweist: „In tiefer Trauer teile ich heute mit, dass mein lieber Sohn Friedrich am 9. 11. 40 unerwartet rasch einem Herzschlag erlegen ist.“ „Das tut niemand, der sich für seinen Sohn schämt. Denn sie hat auch die sterblichen Überreste ihres Sohnes angefordert, um ihn auf dem Steigfriedhof zu bestatten. „Die Beisetzung findet am Samstag, den 11. Januar 41 statt“, kündigt sie den Adressaten an und erwartet offensichtlich deren Teilnahme an der Beerdigung. Susanne Enchelmayer hat versucht, die Schrift von Marie Enchelmayer auf dieser Karte mit der Schrift in der Bibel zu vergleichen, „aber dafür habe ich zu wenig grafologische Kenntnisse“.
Susanne Enchelmayer hätte noch so viele Fragen. Wie kam ihr Großonkel ums Leben? Sie ist nach Dachau gefahren, um seiner zu gedenken, sie war in Neuengamme. Dort mussten die Häftlinge Ziegel brennen und mit beladenen Schubkarren immer wieder auf schwankendem Brett einen Kanal überqueren. Fiel einer von Hunger und Fron entkräftet in den Kanal, hatte ihr der Führer dort erzählt, wurde nur der Schubkarren „gerettet“. Den brauchte man noch. Die Menschen nicht.
Die Fragen bleiben. Es gibt niemanden mehr, der sie beantworten und die Rätsel lösen kann. Die Familienbibel ist im Lern- und Gedenkort Hotel Silber ausgestellt. Susanne Enchelmayer hat sie als Dauerleihgabe zur Verfügung gestellt. Es liegt ihr viel daran, Friedrich Enchelmayer und sein Schicksal vor dem Vergessen zu bewahren. Auch als Mahnung vor drohender neuer Ausgrenzung und Verfolgung.