Weil es heute gute Medikamente gegen HIV gibt, verzichten homosexuelle Männer öfters auf das Kondom beim Sex. Das hat Folgen. Foto: mauritius images/P. Widmann - mauritius images/P. Widmann

Weil es heute gute Medikamente gegen HIV gibt, verzichten homosexuelle Männer heute wieder häufiger auf das Kondom beim Sex. Das hat Folgen - auch in Stuttgart.

StuttgartAids hat seinen Schrecken verloren. Lange Jahre war die Diagnose HIV ein Todesurteil. Heute können Betroffene dank moderner Medikamente gut leben mit der Immunschwächekrankheit. Sie können sogar wieder angstfrei Sex haben. Beim allergrößten Teil der Behandelten geht die Viruslast so zurück, dass sie HIV nicht mehr weitergeben. Diese erfreuliche Entwicklung hat Nebenwirkungen: Nicht alle der Betroffenen wissen, dass sie HIV-infiziert sind (etwa 87.000 Menschen werden in Deutschland mit HIV-Medikamenten behandelt, etwa 12.000 wissen nichts von ihrer Infektion). Auch in Stuttgart hat man im vergangenen Jahr noch 58 HIV-Neuinfektionen registriert. Für die Infizierten bedeutet dies, sie müssen ein Leben lang Medikamente schlucken.

Die guten Behandlungsmöglichkeiten von HIV haben dazu geführt haben, dass in der Szene die Lust auf die Verwendung von Kondomen beim Sex gesunken ist. Deshalb registriert man seit 2001, mit Beginn der Meldepflicht, vor allem aber seit 2010 in den Großstädten der Republik eine wachsende Zahl von Syphilis-Erkrankungen. Betroffen sind laut Studien zu 90 Prozent homosexuelle Männer, vor allem in der Altersgruppe zwischen 25 und 35 Jahren. Insbesondere bei hoher sexueller Aktivität mit wechselnden Partnern wächst das Risiko einer Ansteckung mit der Geschlechtskrankheit. Der Anteil der Frauen betrug bei einer Auswertung 2017 nur 6,4 Prozent.

Krankheit gut behandelbar

Besonders ausgeprägt ist diese Entwicklung in Berlin und Hamburg. „Wir tauchen in dieser Statistik aber auch auf“, sagt Stefan Ehehalt, der Leiter des städtischen Gesundheitsamtes, über die Entwicklung in Stuttgart. Die höchste Zahl von Fällen wurde 2016 mit 162 Neuinfektionen erreicht. Ehehalt geht aber davon aus, dass es bei den Syphilis-Infektionen ein „Dunkelfeld“ gibt. Mit der Geschlechtskrankheit könne man, ohne dass sie diagnostiziert wird, „jahrelang leben“, erklärt der Mediziner. Dabei kann die Krankheit, die durch Schleimhautkontakte übertragen wird und mit schmerzlosen Schleimhautgeschwüren und Lymphknotenschwellungen beginnt, gut behandelt werden, sie ist heilbar. Es gibt einen weiteren Faktor, der den Anstieg von Syphilis-Infektionen begünstigen könnte: die sogenannte HIV-Präexpositionsprophylaxe (PrEP). Dabei handelt es sich um seit 2016 in Deutschland zugelassene Medikamente zur Vorbeugung gegen eine HIV-Infektion. Wer die Tabletten, deren Kosten seit September 2019 von den Kassen getragen werden müssen, regelmäßig einnimmt, erreicht einen 80-prozentigen Schutz gegen eine HIV-Ansteckung. Auch diese Neuerung ist, was die Verminderung des Aidsrisikos angeht, erfreulich. Auch sie führt aber – zumindest vorübergehend – zu einer Erhöhung der früher als Franzosenkrankheit bezeichneten Infektionen. Für alle, welche die Prophylaxe anwenden, gibt es noch einen Grund mehr, beim Sex auf das Kondom zu verzichten. Dass die Medikamente in Stuttgart genutzt werden, zeigen Zahlen der AOK. „2019 haben 205 Versicherte die HIV-PrEP in Anspruch genommen“, sagt Sprecherin Elisabeth Schöndorf. In ganz Baden-Württemberg seien es 1174 Versicherte gewesen. Es dürften aber noch mehr sein. Franz Kibler, der Geschäftsführer der Aids-Hilfe Stuttgart, erklärt, dass die Stuttgarter „HIV-Behandler“, das sind Schwerpunktpraxen, die Prophylaxe an etwa 500 Personen verschreiben. Dieser Umstand könnte den Verlauf der Syphilis-Kurve in den vergangenen Jahren in Stuttgart erklären. Nach dem bisherigen Höchstwert von 162 Infektionen vor vier Jahren gingen diese auf 120 im Vorjahr zurück. Internationale Studien hätten gezeigt, sagt Stefan Ehehalt, dass Nutzer der HIV-Prophylaxe zuvor zu 24 Prozent von sexuell übertragbaren Geschlechtskrankheiten betroffen waren, danach zu 72 Prozent. „Natürlich wird das genommen, damit man kein Kondom mehr benutzen muss“, sagt Franz Kibler ohne Umschweife. Trotz dieses Effekts seien die neuen Medikamente ein Segen, findet der Geschäftsführer der Stuttgarter Aids-Hilfe. Deren bundesweiter Dachverband hat vor wenigen Tagen gemeldet, in Großbritannien, wo die Prophylaxe wie in den USA früher als in Deutschland zugelassen wurde, seien die HIV-Neuinfektionen in nur wenigen Jahren um 71 Prozent zurückgegangen.

Kibler ist „nicht überrascht“, dass die Syphilis-Zahlen in Stuttgart zuerst stark gestiegen, dann aber wieder gesunken sind. Er führt dies auf einen Effekt der HIV-Prophylaxe zurück, den das Robert-Koch-Institut (RKI) beschrieben hat, der aber noch als wissenschaftliche Hypothese gilt: Die konsequente HIV-Vorbeugung könne bei den Geschlechtskrankheiten „zunächst zu steigenden Fallzahlen“ führen, „mittel- und langfristig aber zu deren Rückgang“, heißt es im Bulletin des RKI. Aus einem einfachen Grund: Personen, welche die Medikamente vorschriftsmäßig anwenden, müssen regelmäßig alle drei Monate zum Arzt.

Hohe Kontrollfrequenz

Diese hohe Kontrollfrequenz führt dazu, dass auch eine Syphilis-Infektion frühzeitig erkannt und behandelt werden kann. „Dadurch sinkt die Übertragungswahrscheinlichkeit, weil die Leute nicht jahrelang damit herumlaufen“, sagt Franz Kibler. Der Geschäftsführer der Stuttgarter Aids-Hilfe findet, dass deutlich mehr Schwule in Stuttgart die HIV-Prophylaxe anwenden sollten. Natürlich betreffe dies nur einen Bruchteil der von ihm auf etwa 25 000 homosexuelle Männer geschätzten Community, sagt Kibler. Aber die Gruppe, welche eine risikoreiche Sexualpraxis pflege, sei wohl um das Zwei- bis Dreifache größer als der Kreis, der derzeit die HIV-Prophylaxe nutze.

Dieser Appell ist ganz im Sinne des Gesundheitsamts. Dort hofft man, durch mehr – auch anonyme – Beratungen Menschen erreichen zu können, die ohne HIV-Prophylaxe auf Kondome beim Sex verzichteten, sagt der Leiter des Gesundheitsamts. Dies wäre ein Fortschritt für die HIV- wie für die Syphilis-Prävention. Ehehalt: „Unsere Botschaft ist: Eine möglichst frühzeitige Therapie ist wichtig.“