In der Druckhalle der Eßlinger Zeitung diskutierte Bernhard Pörksen (links) mit EZ-Redakteur Oliver Stortz. Foto: Bulgrin - Bulgrin

Aus Anlass der LesART hat Pörksen sein neues Buch „Die große Gereiztheit“ im Bechtle-Druckhaus vorgestellt.

EsslingenTerrorwarnungen, Gerüchte, Fake-News-Panik und Skandale in Echtzeit – all das ist Alltag geworden. Der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen skizziert in seinem neuen Buch „Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung“ (Hanser-Verlag, 22 Euro) den kommunikativen Klimawandel in unserer Gesellschaft. Und er zeigt auf, welche Schlüsse wir aus unserer schönen, neuen Medienwelt ziehen sollten. Aus Anlass der Esslinger LesART hat Pörksen sein neues Buch in der Druckhalle des Bechtle-Verlags in der Zeppelinstraße vorgestellt. Wir sprachen mit dem Autor.

Selten ging es den Menschen besser als heute. Trotzdem sprechen Sie in Ihrem Buch von jener „großen Gereiztheit“, nach der Thomas Mann ein Kapitel in seinem „Zauberberg“ benannt hat. Wie lässt sich diese Verunsicherung erklären?
Die These meines Buches lautet: Vernetzung heißt Verstörung. Und die Idylle des Zauberbergs ist unter den aktuellen Kommunikations- und Medienbedingungen eine Illusion. Wir kommen einander zu nah, sind in eine Art der unmittelbaren Nachbarschaft hinein gezwungen – und sehen im globalen Dorf fast alles und zwar sofort: das Banale, das Bestialische, das Berührende. Und zwar gleichzeitig, auf ein und derselben Plattform oder eben dem Handy-Display.

Wird diese Verunsicherung von manchen bewusst geschürt?
Natürlich. Jeder kann sich barrierefrei zuschalten, Öffentlichkeit erzeugen. Und das tun nun auch bezahlte Trollarmeen, Populisten, PR-Strategen, Fake-News-Spezialisten. Und Menschen, deren Motive und Absichten wir nicht kennen.

Weshalb fällt die Verunsicherung bei vielen auf so fruchtbaren Boden?
Das Entscheidende ist: Menschen sind bestätigungssüchtige Wesen. Und das Netz, dieses eigentlich wunderbare, so ungeheuer plastische, informationsreiche Medium, kommt der Bestätigungssehnsucht des Menschen sehr weit entgegen. Jeder, der will, findet hier eine Plattform für den exklusiven Irrsinn. Und jeder, der mag, kann für eine noch so abstruse Behauptung einen vermeintlichen Beleg ausfindig machen.

Ist die immer ungezügeltere Empörung einer Verrohung unserer Kommunikation geschuldet, oder bieten uns Politik, Wirtschaft und gesellschaftliches Leben auch zunehmend Anlass zur Empörung?
Was sich geändert hat: Empörungsanlässe sind in anderer Unmittelbarkeit und in Echtzeit sichtbar. Ansonsten gilt: Wir erleben hierzulande eine gesellschaftliche Phase des Wohlstands, die Wirtschaft brummt, die Arbeitslosenquote sinkt, die Kriminalitätsrate ist auf dem niedrigsten Stand seit 1992. Kurzum: Die Situation ist besser als die Stimmung. Aber die Instrumente der Angst- und Stimmungsmache stehen heute allen zur Verfügung.

Die Informationsmöglichkeiten sind besser denn je. Ist das Segen oder auch Fluch?
Die laufende Medienrevolution hat, ganz allgemein gesprochen, ein Doppelgesicht. Einerseits gilt: Wir sind eingetreten in eine Welt des Informationsreichtums, der blitzschnellen, kostengünstigen Kommunikation und Interaktion über große Distanzen. Andererseits müssen wir anerkennen: Mehr Information macht uns nicht automatisch mündiger, sondern steigert die Chancen effektiver Desinformation. Im Moment der Verwirrung greifen Menschen auf das zurück, was sie ohnehin glauben und für wahr halten wollen.

Kommunikation braucht ein gemeinsames Verständnis von Wahrheit und Lüge. Sind wir gerade dabei, uns dieser gemeinsamen Grundlage zu berauben, wenn manche es mit Lügen weiter bringen als mit der Wahrheit?
So weit würde ich nicht gehen. Unter Geistes- und Sozialwissenschaftlern gehört es ja heute zum guten Ton, nach jedem neuen Trump-Tweet das postfaktische Zeitalter auszurufen. Ich halte das aus zwei Gründen für falsch. Zum einen hat es, so muss man in Kenntnis der Propagandafeldzüge der Vergangenheit sagen, faktische Zeitalter nie gegeben. Zum anderen ist die Behauptung, wir lebten in postfaktischen Zeiten, nur Anlass für unproduktive Resignation. Und doch muss man anerkennen: Desinformation wird mächtiger.

Wie können wir junge Menschen für die Medienwelt der Zukunft wappnen?
Der Vorschlag, den ich in meinem Buch entfalte, lautet: Wir müssen von der digitalen Gesellschaft der Gegenwart zur redaktionellen Gesellschaft der Zukunft werden. In den Idealen und Maximen des guten Journalismus liegt eine publizistische Ethik für die Allgemeinheit, die da heißt: „Prüfe erst, publiziere später. Analysiere Deine Quellen. Höre immer auch die andere Seite. Sei skeptisch, auch gegenüber Deinen eigenen Vorurteilen und transparent im Umgang mit Fehlern und Versäumnissen. Beachte Kontexte. Mache ein Ereignis nicht größer als es ist.“ Die Grundfragen, was eigentlich glaubwürdige, seriöse, überhaupt relevante Information ist, gehen heute jeden an. Sie sind nicht mehr nur die Spezialität einer Profession, nämlich des Journalismus.

Sehen Sie Chancen, dass sich der Gedanke einer „redaktionellen Gesellschaft“ auf breiter Front durchsetzt?
Natürlich bräuchte es dafür ein eigenes Schulfach als Labor der redaktionellen Gesellschaft. Die Schule wäre der optimale Ort der Reflexion, der Medien- und Machtanalyse, aber auch der praktischen Ausbildung in der Kunst der respekt- und gehaltvollen Kommunikation. Ob es tatsächlich so kommt, ist ausschließlich eine Frage des politischen Willens, den ich allerdings im Moment nicht sehe – zumal in einer föderalistisch zersplitterten Bildungslandschaft. Hierzulande wird kurzatmig, floskelhaft, geldfixiert und technologiegetrieben über Medienmündigkeit diskutiert, nicht wertebezogen und orientiert an einem ausbuchstabierten Konzept, das eine lange Linie des Denkens zeigt. Das ist tatsächlich fatal, weil doch Öffentlichkeit – verstanden als der geistige Lebensraum einer liberalen Demokratie – gegen verbale Gewalt und Desinformation geschützt werden muss. Hier helfen nicht immer schärfere Gesetze. Hier hilft auch keine Bevormundung. Hier hilft nur Bildung.

Wie können wir ob der Fülle von Informationen, die im Netz gleichberechtigt nebeneinanderstehen, gute von den weniger guten Informationen unterscheiden?
Das ist eine entscheidende Fähigkeit von guten Journalisten, die heute jeder beherrschen sollte: Quellen einschätzen lernen.

Die klassischen Medien bekommen in Zeiten, in denen jeder selbst zum Informations- und Meinungsproduzenten werden kann, Konkurrenz. Hat der anspruchsvolle Journalismus unter solchen Bedingungen überhaupt noch eine Zukunft?
Unbedingt sollte er – in unser aller Interesse – eine Zukunft haben. Denn man kann ohne übertriebenes Pathos sagen: Ein unabhängiger, kritischer, auch mal hart zupackender, investigativ recherchierender Journalismus ist die Lebensversicherung einer funktionierenden Demokratie. Studien zeigen: Je abhängiger der Journalismus, desto korruptionsanfälliger eine Gesellschaft – einfach weil die Instanz der Beobachtung und der legitimen Skandalisierung fehlt. Allerdings wird der etablierte Journalismus gegenwärtig von einer Refinanzierungskrise gebeutelt. Ganze Anzeigenmärkte sind ins Netz abgewandert, die Digital-Monopolisten wie Google und Facebook kannibalisieren den Werbemarkt, hinzu kommt eine Vertrauenskrise, die in manchen Kreisen bis zum Lügenpresse-Geschrei eskaliert. Umso wichtiger ist, dass die Gesellschaft – und auch hier kann ein werteorientiertes Konzept von Medienmündigkeit helfen – sich klar macht: Recherchen kosten Geld. Und man muss für sie bezahlen.

Liegt in der Verunsicherung angesichts der Informations- und Meinungsflut auch eine Chance für Qualitätsmedien, weil sie eine Verlässlichkeit bieten, die weite Teile des Internets vermissen lassen?
Ich denke schon. Prinzipiell werden seriöse Medien bedeutsamer – als Instanzen der Einordnung, der Erklärung, der Verifikation. Die Frage ist nur, ob sie sich unter den gegenwärtigen Bedingungen ausreichend refinanzieren lassen. Noch fehlt das ausreichend robuste Geschäftsmodell für die demokratiepolitisch notwendige Aufgabe. Viele bewegen sich immer selbstverständlicher in ihren jeweiligen Filterblasen. Können Medien wie eine Tageszeitung jenes Verbindende anbieten, das im Alltag von vielen so schmerzlich vermisst wird?
Die Tageszeitung hat, so altmodisch das Medium manchen auch erscheinen mag, einen besonderen Charme: Sie liefert gebündelte Information, überrascht, weil man findet, wonach man nicht gesucht hat. Und sie ist, so würde ich sagen, idealerweise eine Art Spagat-Medium, bringt also Menschen und Milieus einander näher, die sonst gar nicht in Kontakt kämen. Dies ist in Zeiten aggressiver Polarisierung ganzer Gesellschaften wichtiger denn je.

Bernhard Pörksen, Jahrgang 1969, hat Germanistik, Journalistik und Biologie in Hamburg studiert. Während seines Studiums hat er als freier Journalist für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften gearbeitet und später beim Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt volontiert. 2008 erhielt er einen Ruf auf einen Lehrstuhl für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen, wo er bis heute eine Professur innehat. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören der Medienwandel im digitalen Zeitalter, Krisen- und Reputationsmanagement, Kommunikationsmodelle und Kommunikationstheorien, Inszenierungsstile in Politik und Medien und die Dynamik von Skandalen als Spiegel aktueller Wertedebatten.