Unter Feindbeschuss heranrobben, Druckverband anlegen, dann schnell weg. Die Schüsse bei dieser Übung kommen aus einem Lautsprecher. Foto: /Rüdiger Bäßler

Auf einem Truppenübungsplatz bei Ulm bringen Spezialisten der Bundeswehr ukrainischen Sanitätskräften bei, Verletzte vom Schlachtfeld zu retten. Dabei müssen die Ausbilder manchmal revidieren, was sie bisher zu wissen glaubten.

Am Anfang der Rettungskette gibt es praktisch nie einen Arzt, keine Trage, kein Fahrzeug, nur einen Schuss, eine Explosion, Blut und Schmerz. Aber hoffentlich, im Kreis naher Kameraden, eine Kraft, die weiß, was zu tun ist. Die ersten zehn Minuten, so lernen ukrainische Militärangehörige derzeit in der Nähe von Ulm, entscheiden bei Schock und hohem Blutverlust aller Erfahrung nach über Leben und Tod.

Die Schüsse kommen aus einem Lautsprecher auf diesem Truppenübungsplatz, der auf Bitten der Bundeswehr nicht genannt werden soll. Alle Patroullierenden schmeißen sich ins Gras, zwei von ihnen robben zum Verletzten, legen einen Druckverband an. Sie ziehen den verwundeten Körper, halb gebückt, hinter den nächsten Baumstamm. „30 Sekunden, dann müsst ihr weg sein!“, schreit ein Ausbilder. Maximal eine Minute soll diese Übung, genannt „Care under fire“, dauern.

Die Ukrainerin: „Ich bin eine Patriotin. Das ist wichtig für mich“

Immer wieder wird das an diesem Tag geübt, auch wenn der Regen fällt. Danach Gruppenkritik unter Mitwirkung US-amerikanischer und niederländischer Ausbilder. Männer- und Frauenstimmen mischen sich.

Dick vermummt und großflächig bebrillt, nimmt sich eine ukrainische Freiwillige Zeit für ein paar Fragen. Sie nennt sich „Mütterchen“, wie überhaupt alle hier sich aus Vorsicht Decknamen geben. Sie sei gelernte Erzieherin und selber Mutter, erzählt die Frau, kaum größer als 1,60 Meter. Ihre Stimme unter dem Tuch klingt jung. Warum das hier, die wochenlange Plackerei zwölf Stunden jeden Tag, die Angst vor der Rückkehr aufs Schlachtfeld, vor der Gefahr? „Ich konnte nicht anders“, lautet die Antwort. „Ich bin eine Patriotin. Das ist wichtig für mich.“ Dann endet der Kurzdialog. Nicht zu viele Emo-Fragen, keine Tränen, darauf achten die Umstehenden der Bundeswehr.

Vorrücken in die erste Frontlinie

Aus der ersten Deckung heraus soll es, so der Plan, weiter hinter die erste Frontlinie gehen. Dort werden, wo keine Gewehrkugeln mehr fliegen, Tamponaden in Schusskanäle gestopft; sie sind mit Medikamenten zur raschen Blutgerinnung getränkt. Den „Patienten dicht machen“ und verschluckte Zungen hervorholen, das wird später noch gelehrt. Und dann weiter nach hinten ins erste vorbereitete Sanitätszelt, wo erstmals Mediziner warten und behandeln. Und, falls die Verwundetenzahlen groß sind, jene aussortieren, deren Überlebenschancen am geringsten sind.

Junge Chirurginnen und Chirurgen üben das unter minimalistischen Bedingungen. „The best for the most“, sei hier das Motto, sagt ein Hauptmann. „Der Dienstgrad spielt keine Rolle.“ Triage: Der Krieg bürdet jungen Menschen, die helfen wollen, auch solche quälenden Entscheidungen auf.

Bundeswehrsoldat: „Das ist das Wichtigste, was ich bisher gemacht habe“

Wer überlebt, wird in ein noch weiter hinten liegendes Einsatzlazarett gefahren, auf dem Niveau eines Kreiskrankenhauses liegend, wie es heißt, und dennoch in sechs Stunden aufbaubar. Dort endlich gibt es Röntgengeräte, einen Computertomografen, eine Intensivstation – und die Hoffnung auf Heimtransport. Wieder der Hauptmann: „Hier wird das erste Mal Leben gerettet. Alles andere bis hierher zögert den Tod hinaus.“

Die Nähe des Todes beschattet alles an diesem Übungsszenario. Vorausgesetzt, der Krieg gegen Russland geht weiter wie bisher, und gemessen an den bisher bekannten Verlustzahlen unter den ukrainischen Streitkräften, werden einige Menschen hier nach ihrer Rückkehr in die Kampfzone nicht überleben. Manchmal, bei einer der Gruppenbesprechungen, lässt ein lautes kollektives Lachen der Ukrainerinnen und Ukrainer aufhorchen. Es ist, als gehe ein Ventil auf und mindere den Druck. Der Bundeswehr-Stabsfeldwebel Dennis, auch er ist vermummt, hat höchsten Respekt vor der Gruppe, die er für Situationen schulen soll, die er selber nicht kennt. Er bewundert die „hohe Motivation“ der ukrainischen Gäste, ihren Willen, und erlebt sich dabei selber neu. Er fühle „Stolz“, sagt er. „Das ist das Wichtigste, was ich bisher gemacht habe.“

Am besten in unterirdische Schutzräume

Die hier vorgeführte deutsche Rettungskette mit ihren großen Zelten und Containern, auf denen das rote Kreuz weithin leuchtet, ist brüchig. Sie könnte sich, das gehört zu den Lehren der vergangenen zwei Jahre, im Ernstfall sogar als teilweise wirkungslos erweisen. So erzählt es der Generalarzt Jürgen Meyer, auslandserfahren und Abteilungsleiter im Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr in Koblenz. In der Ukraine nämlich zeige sich: „Das Schutzzeichen Rotes Kreuz wird nicht beachtet. Wir sehen sogar, dass solche Fahrzeuge gezielt bekämpft werden.“ Wo immer möglich, zögen sich ukrainische Militärärzte deshalb in Keller und andere unterirdische Schutzräume zurück, außerhalb der Brennweite von Drohnen-Kameras. Deutsche Militärs werden für sich noch die Frage beantworten müssen, ob und wo an Stelle von Sichtbarkeit von Rettungsinfrastruktur im Verteidigungsfall Tarnung treten sollte.

Blaupausen fürs eigene Handeln oder letzte Gewissheiten gibt es wenige bei den deutschen Helfern. Völlig unbekannt bleibt die Frage, was aus den jungen Ukrainern wird, wenn sie wieder fort sind aus dem Ulmer Umland. Wird man sich austauschen, in Verbindung bleiben irgendwie? Nein, sagen Ausbilder Dennis und Generalarzt Meyer jeder für sich. Besser nicht.